Avantgardetheater mit Bar (und Havel an der Wand)

Wer sich für Theaterarchitektur aus der Blütezeit des Prager Funktionalismus der Zwischenkriegszeit interessiert, der findet nirgendwo einen so faszinierenden Ort wie das Divadlo Archa (Archa Theater) in der Na Poříčí 1047/26 (Prag Neustadt). Passend zum radikalen Modernismus des Gebäudes passt der Anspruch des Theaters selbst, ein Hort progressiver Avantgarde und des Experiments zu sein.

Und das hat Geschichte. Und zwar eine, die weit vor die Gründung der Theatergruppe Archa im Jahre 1994 zurückreicht. Die begann eigentlich im Bauwerk daneben. Dort befindet sich heute immer noch das historisch bedeutsame Gebäude der ehemaligen Bank der Tschechoslowakischen Legion, (wir berichteten hier), kurz Legio Bank genannt, das in den Jahren.1921 bis 1923 von dem bekannten Architekten Josef Gočár im Stil des Rondokubismus erbaut worden war. In den 1930er Jahren war dieses schon recht stattliche Gebäude für die Aktivitäten der Bank zu klein und man beschloss eine Erweiterung. Dass dafür eine kleinere Brauerei abgerissen wurde, gehört zu den kleinen Tragödien der Menschheit, die man nicht zu erwähnen vergessen sollte. Als man das Gebäude zwischen 1937 und 1939 gemäß den Plänen des Architekten František Marek realisierte, war der Rondokubismus voll „out“, und Funktionalismus war angesagt. In den Proportionen passen beide Gebäudeteile harmonisch zueinander, aber stilistisch sind sie sehr unterschiedlich. Im kleinen Bild oberhalb links sieht man rechts das alte, sehr ornamentreiche Gočársche und links das schlichtere Mareksche Gebäude.

Wie im alten Gebäude, ließ die Bank in den unteren Geschossen Platz für Läden oder Restaurants. Schließlich lag der bau an einer prominenten Einkaufstraße. Jetzt wurde sogar eine große Passage eingeplant, in der sich der Eingang zum Theater befindet. In dessen Räumlichkeiten zog nun 1939 das berühmte Theater D34, das seit seiner Gründung 1933 zunächst im Mozarteum gespielt hatte. Als es in das neue Gebäude in der Na Poříčí einzog, hieß es aber schon D39. Denn der Gründer und spiritus rector des Theaters, Emil František Burian, gab dem Theater seit der ersten Saison 1934 jedes jahr die aktuelle Jahreszahl (d.h. die letzten zwei Stellen derselben). Da deutete bereits an, dass hier kein gewöhnliches Theater seine Tore öffnete.

Das D34 stand für revolutionäre Neuerungen. Es gab erste Experimente mit multimedialen Aufführungen. Genre wie Tanz und Schauspiel wurden vermischt. Im Repertoire standen moderne Stile wie Dadaismus und Autoren wie Brecht auf dem Programm. Burian führte 1935 auch die erste tschechische Bühnenadaption von Jaroslav Hašeks Roman vom Guten Soldaten Švejk auf. Neu war auch die Organisation des Theaters. Hier gab es Basisdemokratie. Jeder Mitarbeiter und Schauspieler des Ensmbles konnte gleichbereichtig über aller Angelegenheiten, wie z.B. das Repertoir, mitbestimmen. Nun ja, weil er formell die Theaterlizenz besaß, dürfte Burian wohl etwas gleich gewesen sein, aber trozdem war das alles sehr radikal. Und Burian selbst war Mitglied der Kommunistischen Partei, wenngleich er in den Zeiten der Ersten Republik sich ab und an noch non-konformistisch gegenüber der in Richtung Stalinismus abdriftenden Parteiführung gab und sich zu künstlerischer Freiheit bekannte.

Als man bei D39 angekommen war, besetzten die Nazis das Land. Weder Kommunisten, noch experimentelles Theater waren erwünscht. 1941 wurde das Theater endgültig geschlossen. Burian war schon 1940 verhaftet worden und nacheinander in verschiedenen Konzentrationslagern eingesperrt. Im Mai 1945, wenige Tage vor Kriegsende, wurde er in das umfunktionierte große Passagierschiff Cap Arcona geschleppt, das kurz darauf von allierten Bombern (deren Besatzungen nicht ahnten, dass sich hier Gefangene der Nazis und keine Feindobjekte befanden) versenkt wurde. Es war eine humanitäre Großkatastrophe. Von den 4800 Menschen an Bord überlebten nur 400 – und Burian war wie durch ein Wunder einer davon.

Nach Prag zurückgekehrt begann man mit D46 neu. Aber der einst non-konformistische Geist war der bedingungslosen Linientreue gewichen. Immer platter wurde die Parteipropaganda auf der Bühne. 1951 verwandelte man sich unter Burian sogar in das Kunst-Theater der Armee (Armádní umělecké divadlo), um dem Kampferswillen der proletarischen Revolution zu stärken, oder so…. Als Burian 1959 starb, benannte man das Theater nach ihm, dem künstlerischen Aushängeschild des Regimes, in E.F. Burian Theater (Divadlo E. F. Buriana). Nach dem Ende des Kommunismus und der Samtenen Revolution von 1989 war das Ganze dann doch etwas aus der Zeit gefallen und (wie das untergegangene Regime) sklerotisch geworden. 1991 schloss das Theater seine Pforten. Im Jahr darauf erfolgte der Umbau im Inneren des Gebäudes unter der Leitung des Architekten Ivan Plicka. Für eine hypermoderne und neuartige Theatertechnik sorgte dabei der Bühnenbildner und Architekt Miroslav Melena. 1994 war das Ganze fertiggestellt und ein neues Theater konnte einziehen: das von Theaterdirektor Ondřej Hrab gegründete und (immer noch) geleitete Archa Theater.

Das Archa ist nicht mehr so radikal basisdemokratisch organisiert wie das D34. Es verfügt dafür auch über kein festes Ensemble. Eher gleicht es einem flexiblen Produktionshaus, das Künstlern und Ensembles produktionstechnische und technische Hintergründe für ihre Arbeit bietet. Auf diese Weise will Hrab individueller Kreativität (statt Kollektivismus) fördern. Es entstehen im Haus selbst oft neue avantgardistische Projekte und Produktionen von Künstlern. Zudem gibt es Gastauftritte (etwa die Royal Shakespeare Company aus England). Und zu den Künstlern, die hier schon innovative Projekte realisierten, gehörten der britische Art-Rock-Musiker John Cale, der japanische Improvisationstänzer Min Tanaka, der US-Songwriter Randy Newman, der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš mit seinem Kabarett, die deutsche Experimentalband Einstürzende Neubauten oder der US-Dichter Allen Ginsberg, der hier 1996 einer seiner letzten Lesungen absolvierte – und viele, viele Künstler von Weltrang mehr. Mit seiner genre- und medienübergreifenden Konzeption, die multimediale Kreativplattform und internationales Netzwerk zugleich ist, setzt das Archa das positive künstlerische Erbe des ursprünglichen D34 damit in moderner Form fort.

Das alles muss – zumal manchmal ein etwas linksalternativer Unterton vorherrscht – nicht jedermanns Geschmacks sein (das will as Archa wohl auch nicht), aber in seiner Kategorie gehört das Archa zum renommiertesten, was Prag in Sachen Avantgarde-Theater zu bieten hat. Was aber auf keinen Fall bestreitbar ist, ist die Tatsache, dass die Architektur der Theaters aus den 1930er Jahren (auch nach den ästhetisch sehr behutsamen Änderungen von 1994) immer noch mit dem modernen Anspruch des Theaters mithält. Der strenge Funktionalismus von Mares ist zeitlos. Der Eingangsbereich und das Treppenhaus sind sehr licht gehalten. Die Betonpfeiler sind schlank und mit Marmor verkleidet;; der Stahl der Treppen und vor allem die auffallend dominierenden Glasbausteine als (zu Lichtspielen einladende) Wandvertäfelung geben dem Raum eine einzigartige Atmosphäre, die kühl-modernistisch, aber zugleich auch einladend wirkt.

Gegenüber dem Originalbau radikaler verändert wurden jedoch die beiden Theater- und Bühnensäle, die zusammen 1200 Zuschauern Platz bieten können. Hier war der technische Fortschritt so groß, dass nur ein recht großzügiger Umbau 1994 die Einrichtung passend für anspruchsvolle Multimedia-Events gestalten konnte. Die beiden großen Säle können zusammengelegt werden und bei beiden sind alle Bauteile mechanisch so flexibel verschiebbar, dass quasi jedes Bühnenformat in jeder Form und Größe für jeden Zweck und jedes Format verändert werden können. Das ist beeindruckend. Rund 200 Aufführungen mit rund 40.000 Zuschauern absolviert das Theater im Jahr. Das Bild oben zeigt eine im Archa speziell dafür konzipierte Multimedia-Aufführung anlässlich des Signal Light Festivals im Oktober 2021.

An dieser Stelle muss auch die Bar des Hauses erwähnt werden. Die ist natürlich modern und cool (doch gemütlich) und man sitzt hier gerne, um die wohlsortierte Getränke-Auswahl zu genießen. Und fällt der Blick auf das Bild von Václav Havel, dem Schrifsteller, Dissidenten und ersten Präsidenten des Landes nach 1989. Das Bild zeigt ihn, wie er 2008 die Uraufführung seines letzten Stückes mit dem Titel Odcházení (Verlassen) hier im Archa kommentiert. Das war damals eine Sensation und es zeigt, dass das Archa die künstlerische Tradition des alten D34 weiterentwickelt (Havel als Vertreter des Absurden Theaters passte dazu!), aber sich von der am Ende künstlerisch ruinösen kommunistischen Ideologie Burians (trotz des linksalternativen Habitus) gelöst hat. (DD)

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