- Hans Weber
- August 16, 2024
Der Balkon der Samtenen Revolution
Der gemeinsame Auftritt der beiden am 23. November 1989 – heute vor 33 Jahren! – auf diesem Balkon gab den Menschen endgültig die Hoffnung, dass der Spuk des Kommunismus bald vorbei sein werde. Als der Schriftsteller Václav Havel, die weltweit bekannte Symbolfigur des Widerstandes, und Alexander Dubček, der 1968 gestürzte Architekt des Prager Frühlings, vor der Menge erschienen, brach riesiger Jubel aus.
300.000 Menschen hatten sich hier auf dem Wenzelplatz zu einer gigantischen Demonstration gegen das Regime versammelt. Es war die erste Demonstration des neuen Oppositionsbündnisses Bürgerforum (Občanské fórum), das sich am 19. November gegründet hatte, und das schon am 26. November Gespräche mit der kommunistischen Regierung führen sollte, um deren Machtmonopol zu brechen. Es war alles ganz schnell gegangen. Am 17. November 1989 hatte die erste große Studentendemonstration stattgefunden, die gemeinhin als Beginn der Samtenen Revolution gilt. Die Demonstration wurde zwar von der Polizei niedergeprügelt, aber die Demonstration gingen weiter und wurden größer und größer.
Von allen Demonstrationen der Samtenen Revolution sollte die am 23. November die größte Strahlkraft haben. Es war ein wahres Riesenaufgebot von Prominenten aus Kultur und Politik, die hier auf dem Balkon des Hauses am Václavské náměstí 793/36 der Menge zeigten, dass sie sich vom Regime in Protest abgewendet hatten. Zu den ersten Rednern gehörte Rudolf Hrušínský, der populäre Schauspieler und Švejk-Darsteller (der bald darauf als einer der ersten demokratischen Parlamentsabgeordneten gewählt wurde). Die Menge sang begeistert mit, als die Sängerin Marta Kubišová ihr berühmtes Lied Modlitba pro Martu sang, das so etwas wie die Hymne des Prager Frühlings gewesen war. Kubišová hatte zu den Erstunterzeichnern der Charta 77 gehört und war danach ungeheueren Repressalien des Staates ausgesetzt. Auch der Schlagerstar Karel Gott trat auf den Balkon. Er hatte sich zwar immer recht systemtreu verhalten und sogar für das Regime eine Anti-Charta zur Charta 77 unterzeichnet. Jetzt sang er unter dem Jubel der Menge die Nationalhymne, und zwar ausgerechnet im Duet mit dem Protestsänger Karel Kryl, der 1968 nach dem Ende des Prager Frühlings aus dem Land hatte fliehen musste. Aber vielleicht war gerade dies das Signal, dass es mit dem Regime zu Ende ging, dass auch angepasstere Prominente wie Gott nun aus der Deckung kamen.
Aber es war vor allem die Rede von Alexander Dubček, die der Revolution zusätzliche Legitimation verschaffte. Er war der Zeitzeuge dafür, dass das System seine Versprechen brach und gab dem Umsturz quasi seinen Segen (weshalb er bald demokratisch gewählter Parlamentspräsident wurde). Und dann kam Havel. Der hartnäckige Dissident und Einiger der Opposition und ihr glaubwürdiger Repräsentant. Aber Havel hatte ja bis dato nur im Untergrund gewirkt, und so wurde dies seine erste große öffentliche Rede. Er meisterte die Herausforderung brillant. Seine Forderungen nach Freiheit und Demokratie stießen auf Begeisterung. Die Menge rief immer wieder „Havel na hrad“ – Havel auf die Burg, also in den Präsidentenpalast. Und Präsident war er dann bald tatsächlich. Am 29. Dezember wählte ihn die Föderalversammlung derTschechoslowakei in das Präsidentenamt. Dass für den Auftritt am 23. November ausgerechnet der Balkon dieses Gebäudes ausgewählt wurde, mag kein Zufall gewesen sein, denn auch ohne die Samtene Revolution wäre es ein bedeutender Teil der politischen Geschichte des Landes.
Das fünfstöckige Büro- und Geschäftsgebäude wurde von 1911 bis 1913 nach den Plänen des bekannten Architekten Bedřich Bendelmayer als Palác Hvězda (Stern-Palast) gebaut (wir erwähnten ihn u.a. bereits hier und hier). Es handelt sich um ein Meisterwerk des späten geometrischen Jugendstils. Die steinernen Skulpturen (insbesondere die, die den Balkon tragen) und vor allem die farbigkräftigen Glasmosaike mit symbolistischen Darstellungen stammen von dem Bildhauer, Illustrator und Maler Vratislav Mayer.
Das Gebäude schrieb schon kurz nach Fertigstellung ein Stück tschechischer Demokratie-geschichte als hier 1913 der 1897 als Genossenschaft gegründete Verlag Melantrich (Nakladatelství Melantrich) einzog. Dieser Verlag war nach Georg Melantrich von Aventin (eigentlich: Jiří Černý Rožďalovický) benannt, einem Pionier des Druckwesens in Böhmen im 16. Jahrhunderts. Der Verlag stand der National-Sozialen Partei (Česká strana národně sociální) nahe, die nach der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei 1918 als zentristische Partei mithin die staatstragende Gruppierung der Republik war und mit Tomáš Garrigue Masaryk den Präsidenten stellte. Wichtigstes (aber nicht einziges) Produkt des Verlages war die 1907 ins Leben gerufene Tageszeitung České slovo (Tschechisches Wort), die großen Zeitungen des Landes gehörte. Das Erscheinen der Zeitung wurde nur kurz während des Ersen Weltkriegs unterbrochen. Selbst unter der Nazi-Herrschaft erschien sie weiter, wenngleich weitgehend zensiert.
Als die Republik 1945 wiedergegründet wurde, änderte man den Namen in Svobodné slovo (Freies Wort). Von Anfang an bekämpfte das Blatt den Vormarsch der Kommunisten. Selbst als die Kommunisten im Februar 1948 die Macht ergriffen hatten, setzte sie noch kurz ihren Widerstand fort – bis einige Tage darauf die Produktion für zwei Tage eingestellt wurde. Danach stand sie unter neuer und regimetreuer Leitung und blieb es auch. Aber: Ein wenig vom alten republikanischen Geist hatte wohl in den Redaktionszimmern überlebt….
Denn als am 17. November 1989 die erste Demonstration der Samtenen Revolution von der Polizei niedergeschlagen wurde, war Svobodné Slovo die erste große Zeitung des Landes, die die Polizeiaktion scharf verurteilte und sich auf die Seite der Revolution stellte. Sie publizierte Manifeste der Demonstranten und die Redaktionsräume wurden zu Treffpunkten der Dissidenten. Und dann war da noch der Balkon, der mithin die beste Rednerbühne am Wenzelplatz bot. Und deshalb wurde der Balkon auch zu dem zentralen Ort der Revolution, auf dem Václav Havel seine erste große Rede hielt.
Für die Zeitung und den Verlag selbst war die Samtene Revolution allerdings kein Segen. Sie wurden privatisiert, indem man sie an den Investor Chemapol verkaufte, der die Teitung 1997 in Slovo (Das Wort) umtaufte. Chemapol geriet 1998 in die Krise geriet und stieß das Blatt an die Herausgeber der (2001 ebenfalls bankrott gegangenen) Zeitung Zemské noviny (Landeszeitung) ab, der Slovo aber nicht halten konnte und kurz darauf die Produktion einstellte. Das Verlagsgebäude des Palác Hvězda wurde 1999 versteigert. Heute residiert hier im hinteren Gebäudeteil eine große Filiale eines britischen Mode- und Lebensmittelgeschäfts. Zur Frontseite hat sich ein Hotel angesiedelt. Bucht man dort Zimmer 203, kann man anscheinend den Balkon, der so viel Geschichte schrieb, betreten. Bedauerlich ist, dass sich am Haus selbst nirgendwo eine Gedenkplakette befindet. Das sollte man möglichst bald ändern. (DD)
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