Ein Stück Keynes vor Keynes: Die Treppe im Kunratice-Wald

Mitten im Walde. Allzu leicht kann man sie im Gestrüpp übersehen. Sie scheint im Nirgendwo zu beginnen und im Nirgendwo zu enden. Geheimisvoll und irgendwie fehl am Platze wirkt sie, aber auf jeden Fall recht groß dimensioniert. Obwohl eindeutig ein Betonbau neuerer Zeit, strahlt diese Treppe so etwas wie echte Ruinenromantik aus. Das Wie, Was und Warum scheinen ein Rätsel zu sein.

Nur wenige Minuten Gehweg von der Nähe der Metrostation des von modernen Plattenbauten geprägten Stadtteils Chodov entfernt, befindet sich der Kunratice-Wald (Kunratický les). Und dort, in einem von steilen Hügeln und Tälern geprägten Areal, das zur Gemeinde Krč gehört, befindet sich das Bauwerk, für das es irgendwie keine so rechte Erklärung zu geben schien. Und es ist auch keine Kleinigkeit, denn auf rund 80 Meter Länge wird ein Höhenunterschied von 27 Metern überwunden. Gerüchte und Legenden gab es immer wieder. Etwa, dass die Betontechnik auf die kommunistischen 1950er Jahre hindeute, was aber stisch nicht ganz passen würde. Zudem war Beton schon in der Ersten Republik ein weit verbreitetes und beliebtes Baumaterial. Auch für die These, die Wehrmacht habe sie für Ihre Zwecke während des Weltkriegs angelegt, gibt es keinen Beleg. Kein militärischer Zweck ist sichtbar und worin sollte der hier inmitten des Waldes auch gelegen haben?

Richtig ins Rollen brachte die Suche nach dem Ursprung der rästselhaften Treppe brachte Krčák žije (Krč lebt), ein lokales Online-Magazin, das sich Themen rund um das Waldgebiet annimmt. In einem Beitrag vom Oktober 2018 sammelte der Artikel Aussagen von (heutigen) Förstern und lokalen Bewohnern, die zum Teil interessante, aber auch abwegige neue Theorien erbrachten Aber es gab auch handfestere Indizien. Eine Luftaufnahme von 1938 zeigte noch die bald darauf durch Baumwuchs wieder unsichtbare Schneise der Brücke. Bewohner fanden in ihren Kellern oder Speichern Photos, auf denen 1937 Vorfahren auf der Treppe posierten. Es kristallisierte sich heraus, was eigentlich auch eine selbst oberflächliche stilistische Einordnung nahelegte, nämlich, dass der Entstehungszeitpunkt in den 1930er Jahren liegt, in denen ein solch beton-orientierter Funktionalismus in der Architektur modern war. Der Artikel wurde in der Folge 14.000 gelesen, was für ein solches Medium enorm ist. Das inspirierte das Tschechische Fernsehen (ČT1) im Mai 2019 zu einer kleinen Fernsehdokumentation. Die sorgte noch einmal dafür, dass weitere Dokumente aus privatem Besitz auftauchten. Und so erschien im 2020 ein zweiter Artikel in Krčák žije, der der Lösung des Rätsels noch einmal näherkam.

So fand man einen Artikel in der Zeitung Národní Listý (Volksblätter) vom 27. September 1935, in dem über den Beginn der Realisierung einer großen Treppe im Kunratický les berichtet wurde. Zudem fand ein Sammler ein wahrscheinlich auf den November 1935 datierbares Photo einer gewissen Frau Nováková, die in einer der Nischen der Treppe sitzt. Nicht zuletzt tauchte das Bauwerk auf einer neuen Landkarte von 1936 auf, während es 1935 noch nicht verzeichnet war. Seltsamerweise tauchte sie in späteren Landkarten nicht mehr auf, was für ihre Kurzlebigkeit spricht. Wann genau die Treppe dem Verfall und der Überwucherung überantwortet wurde, weiß man nicht so genau. Die am häufigsten und nur mündlich verbreitete Erklärung ist, dass sie im Mai 1945 bei den Kämpfen während des Prager Aufstands gegen die Nazis (siehe auch hierhierhier und hier) bereits großen Schaden genommen hätten. Konkreteres weiß man nicht, aber ganz unwahrscheinlich ist das nicht.

Jedenfalls schien nach Kriegsende die Treppe immer mehr zu verfallen und zu überwachsen. Nur selten wurde sie wieder in das kulturelle Gedächtnis zurückgerufen. Eine längere Szene im Film Kočár do Vídně (Kutsche nach Wien) von 1966 zeigt die Treppe. Es handelt sich um einen sehr differenziertes und ohne Schwarzweißmalerei auskommendes Drama um menschliche Schicksale in den grausamen Tagen vor Kriegesende – zu differenziert anscheinend, denn er wurde nach den Niederschlagung des Prager Frühlings von den Kommunisten verboten. Den Film kann man übrigens frei im Netz sehen und die Szene mit der damals bereits recht verfallenen Treppe befindet sich auf 51 Min,/33Sek.ff.

Man kann – wie es auch uns etliche Male passiert ist – öfters den grün markierten Wanderweg entlang gehen, ohne dass man auf die Treppe achtet oder sie gar bemerkt. Wenn man erst einmal weiß, wo sie ist, ist sie allerdings ob ihrer Größendimension immer noch deutlich erkennbar. Wenn man von unten hinauf will, muss man den Weg verlassen und erst einmal über einen kleinen hüpfen, der nur 250 Meter von hier entfernt einem Quell entspringt und rund 300 Meter weiter sich wieder im Kunratice Bach (Kunratický potok) verliert. Breit ist der Bach, den man überspringen muss, hier aber noch nicht (siehe Bild links), sodass man das problemlos schaffen kann.

Aufstieg mag der kleine Trampelpfad, der sich rechts neben der Treppe gebildet hat, einen bequemeren Weg zu versprechen. Aber über glatten Schieferfelsen, knorrige Wurzeln und Betonfragmente zu klettern, ist aber auf jeden Fall viel spannender. Ab und an finden sich sogar noch halbwegs intakte Stufen. Bedenkt man, wie alt die Treppe ist – immerhin fast 90 Jahre – ist eigentlich an vielen Stellen noch recht viel von ihr erhalten.

Kurz vor dem oberen Abschluss findet man sogar in einer der dafür eingerichteten Nischen das Fragment einer alten Sitzbank (ebenfalls aus Beton), das man im Bild oberhalb rechts sehen kann. Früher müssen viele von diesen Bänken den Weg gesäumt haben. Der Weg nach oben war steil und so konnte man ein wenig rasten, wenn es zuviel wurde. Auch sonst war der Aufstieg anfänglich einfacher. An den größtenteils heute noch erhaltenen seitlichen Regenabflussrinnen (Bild links) waren zu Beginn noch hölzerne Treppengeländer angebracht, die dem Wanderer das Leben erleichtern solltten. Aber Holz ist vergänglicher als Beton, und so blieben nur noch Rinnen übrig, die sich noch gut erkennen lassen.

Kommt man oben an (im Bild rechts sieht man dabei Lady Edith) stellt man sich doch die entscheidende Frage. Beeindrucken ist sie ja, aber warum hat man sie gebaut? Und gleich so groß? Nun, einer der überlieferten Namen für die Treppe ist Primátorské schody – Bürgermeistertreppe. Es gab auch andere und unoriginellere Bezeichnungen, wie etwa Krčské schody (Krč-Treppe), aber die hier gibt sicher einen Hinweis, nämlich dass es um Politik gehen könne. Und die war in den 1930er Jahren geprägt von der Großen Depression, auch Welwirtschaftskrise gennnnt, die auch in der Tschechoslowakei zu schweren sozialen Verwerfungen führte.

Über Ursachen und Heilmittel gegen die Krise diskutierten die Ökonomen heftig. Als populärer Sieger der Debatte musste damals der britische Ökonom John Maynard Keynes, der 1936 in seiner General Theory of Employment, Interest, and Money die Krisenursache in einer allgemeinen Nachfrageschwäche vermutete, der man mit Konjunkturprogrammen, Niedrigzinsen mehr Staatsausgaben und Staatsschulden zu Leibe rücken müsse, die dann die Wirtschaft wieder ankurbeln. Das sieht heute nicht mehr jeder so. Ökonomen wie Friedrich August von Hayek meinten schon früh, dass gerade die staatliche Geldausweitung (auch durch die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken) vor der Krise dieselbe erst verursacht habe. Die Ankurbelungsprogramme würden das Problem also längerfristig verschärfen, zu Marktverzerrung und dem Erhalt und der Schaffung weiterer ineffizienter Wirtschaftsaktivität führen. Spätere Erfahrung in den 1970ern sollten dies bestätigen. Und auch die Krise der 1930er wurde möglicherweise nur verlängert.

Aber das sind für Politiker letztlich nur akademische Debatten. Ihnen brauchte man nicht zu erklären, dass man mit staatlichen Ankurbelungsmaßnahmen die benötigte kurzfristige Popularität beim Wähler als Mann der Tat einheimsen konnte. Schon lange, bevor Keynes seine Ideen darlegte, hatte das tschechoslowakische Parlament für entsprechende Maßnahmen die Grundlage beschlossen. Das Gesetz 74/1930 sb von 1930 sah Lohnzuschüsse für Arbeiter (zwecks Kaufkraftankurbelung) und die Möglichkeit für aller staatlichen Ebenen vor, bezuschusste arbeitsbeschaffende Projekt in die Wege zu leiten. So auch in Prag. Der 1919 bis zu seinem Tod 1937 amtierende Oberbürgermeister Karel Baxa (wir erwähnten ihn bereits hier), der dann nur noch bis zur Nazizeit für zwei Jahre von Petr Zenkl gefolgt wurde, wusste mit feinem politischen Gespür – wie man an seiner langen Amtszeit sieht – wie man sich so in Szene setzen konnte.

Als das Treppenprojekt lanciert wurde, gab es Keynes‘ Buch schließlich noch nicht. Aber die Politiker spürten, dass dies Ideen irgendwie bereits in der Luft lagen. In der Tat war die Treppe offenkundig so konzipiert, dass der Bau vor allem arbeitsintensiv wurde, obwohl das von der Sache her kaum gerechtfertigt war. Denn eigentlich handelt es sich bei dieser Treppe nur um eine Abkürzung. Der damals bereits existierende Wanderweg (heute grün markiert) macht weiter östlich eine Haarnadelkurve und führt dann am oberen Punkt der Treppe vorbei. Die Brücke erspart dem Wanderer mindestens 900 Meter (abzüglich der 80 Meter der Treppe selbst). Für diese Zeitersparnis eine der am aufwendigsten ausgestattete Treppe? Die Vermutung, es hier mit einem Arbeitsbeschaffungsprogramm zu tun zu haben, liegt nah.

Dafür spricht auch, dass Bürgermeister Baxa sich gerne an die Spitze solcher Projekte setzte, insbesondere bei Projekten, die Naturgebiete als Naherholungsareale erschlossen. 1934 ließ er nachweislich Wanderwege im Naturschutzgebiet der Divoká Šárka (wir berichteten bereits hier) anlegen, etwa 12 Kilometer Luftlinie nordwestlich von der Treppe im Kunratický les. Und eine Treppe großen Ausmaßes gehörte dazu – etwas weniger breit, aber dafür 100 Meter lang und 30 Meter Höhe überwindend (siehe Bild rechts). Sie wurde aber sinnvoller in das Wanderwegsystem integriert, ist bis heute viel begangen und verfiel deshalb auch nicht ungenutzt. Natürlich gab auch es andere große Bauprojekte unter ihm, etwa das 1934 eröffnete Eisstadion Štvanice. Alles das erklärt, warum Baxa fast die ganze Zeit der Ersten Republik unangefochten Bürgermeister blieb. Ob das wirklich gegen die Arbeitslosigkeit half, bleibt womöglich umstritten.

Die Weltwirtschaftskrise traf vor allem die Randgebiete der Tschechoslowakei, insbesondere das von Deutschen bewohnte Sudetenland, was auch einen Teil der damals zunehmen den Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen erklärt. Dort betrug die Arbeitslosenraten fast 20%, in Prag knappe 5%. Vielleicht gab es in Prag keinen „keynesianischen Moment“, der die interventionistische Politik gerechtfertigt hätte. Aber es ließ die Stadtregierung gut aussehen. Dass sie werbewirksam Bürgermeistertreppe genannt wurde, passt daher irgendwie.

Das sind aber Fragen der Vergangenheit. Die eigentlich unlogisch und sinnfrei in die Landschaft gestellte Treppe verfiel ungenutzt und wurde auch nie wieder ausgebessert. Nur Kenner der Gegend versuchen es, sie zu erklimmen. Aber das lohnt sich schließlich. Es ist ein kleines Abenteuer für sich, hier hinaufzusteigen. Und eine immer noch mysteriöse Reise in der keineswegs so glückliche Vergangenheit der Zeit zwischen den Kriegen. Ein Stück Keynes vor Keynes, sozusagen. Ein Lehrstück sogar vielleicht, wenn man sich den Verfall eines solch beeindruckenden Bauwerks ansieht. (DD)

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