Gemüseapostel?

Die Büste im grotesken Renaissancestil erinnert ein wenig an einen Klingonen aus neueren Star Trek-Episoden. Nur, dass die Gemüse- und Sonnensymbolik auf ein Wesen mit deutlich weniger ausgeprägtem Kriegerkastenethos und mehr vegetarischen Instinkten hinweist. Was wollte der Künstler dieser Skulptur an der Fassade des vierstöckigen Hauses n der Na Moráni 1313/13 in der Neustadt uns damit sagen?

Aber wir wissen immerhin: Die Pläne dieses Hauses stammen von dem Architekten Bohdan Pudlač, über den man tatsächlich wenig mehr weiß als das Geburtsjahr 1858 und die Tatsache, dass er an der neuen tschechischen Technischen Universität in Prag Architektur studiert hatte. Es ist nicht einmal klar, ob er Tscheche oder nicht gar „Südslawe“ – vielleicht ein Slowene oder Kroate – war, aber immerhin auf jeden Fall ein Bürger des Habsburgerreichs, das ja ein Vielvölkerstaat war. Der Mangel an Information über ihn ist seltsam, denn er war offensichtlich sehr produktiv und hätte mehr Nachruhm verdient.

Denn er hat anscheinend um die Jahrhundertwende in Prag zahllose Gebäude entworfen (etwa das Nachbarhaus hier), die ihn als begabten Architekten und als ausgesprochen originellen Vertreter eines sehr aussdrucksstarken Historismus ausweisen. Vor allem in der Prager Alt- und der Neustadt fand er seine Wirkungsstätte.

Dass diese Charakterisierung stimmt, beweist das hier vorgestellte Haus. Der Historismus in seiner Neorenaissance-Ausformung hat hier tatsächlich das sogenannte „gewisse Etwas“, das ihn aus der Menge anderer Gebäude in diesem Stil herausragen lässt. Es beginnt schon mit dem schwungvoll gestalteten Giebeln, an dessen Seite sich zwei kleine Fachwerktürmchen befinden – ein Baudetail, das dazu führte, dass Architekturhistoriker im Zusammenhang mit diesem Haus von einem „Schweizer Stil“ sprechen. Auf jeden Fall folgt das Gebäude architektonisch insgesamt weniger den Konventionen der italienischen Renaissance, sondern eher denen im deutschsprachigen Raum.

Das Grundstúck zu dem Haus wurde erstmals 1378 schriftlich erwähnt, als es ein Zimmermann mit Namen Valentin vom nah benachbarten Emmaus Kloster kaufte. Dessen damaliges Haus gibt es aber schon lange nicht mehr. 1845 wurde hier von einem Baumeister namens Alois Bretschneider ein mehrstöckiges Wohngebäude im Stil des Klassizismus erbaut. Das wiederum wurde 1898 durch das heute hier zu sehende vierstöckige Miets- und Wohnhaus nach den Plänen von Pudlač ersetzt. Das war sicher deutlich mondäner als seine Vorgängerbauten.

In dieser Zeit wurde nämlich dieser, Podskalí genannte Teil der Neustadt, der bisher eher ein Armenviertel für die Flößer und Fischer am Flussufer der Moldau (wir berichteten u.a. hier) war, gründlich gentrifiziert, wie man die Aufwertung der Bausubstanz und der Einwohner-Mileus heute nennt. Angesichts des schönen Blicks, den man von hier auf die Moldau genießen kann, verwundert es nicht, dass das heute gewiss keine billige Wohnlage mehr ist.

Vor der Fassade kann man länger verweilen und die Augen schweifen lassen, denn sie hat viel optische Abwechslung zu bieten. Die Fensterrahmen mit ihren Verzierungen und die unzähligen Stuckaturen (daruter sehr viel groteske Maskaronen, d.h. Fratzengesichter) machen schon für sich genommen das Haus zu einem Schmuckstück. Allerdings würde sich das Ganze nicht übermäßig originell von anderen Neo-Renaissance-Gebäuden der Zeit unterscheiden. Damals zu Ende des 19. Jahrhunderts war dieser Stil in Prag generell ein dominierender Modetrend und man musste schon etwas tun, um wirklich aufzufallen.

Herausragend wird das Gebäude dann aber durch den fein beschnitzten hölzernen Balkon in dr Mitte auf Höhe des zweiten Stocks und über einem konventionell steinernen auf Höhe des ersten Stocks. Zusammen mit den Fachwerktürmen hat Architekt Pudlač hier für historistische Wohnhäuser in sehr ungewöhnlicher Weise Holz als Material in den Mittelpunkt der Fassadenästhetik gestellt.

Zurück zu der grotesken Büste über dem Mittelfenster des vierten Stocks, die Sonnenstrahlen auf der Brust hat, und der Kohlblätter aus dem Kopf wachsen. Und die von kleinen Füllhörnern und Gemüsen umgeben ist. Ist einem Kunstdenkmalsführer (hier, S. 617) ist von der Darstellung eines Apostels die Rede. Von weitem sieht es vielleicht so aus, weil die Figur eine segnende Pose einnimmt. Aber bei näherer Betrachtung? Wenn das ein Apostel sein soll, dann konnte Pudlač froh sein, dass er das Haus in den Zeiten der Neorenaissance des späten 19. Jahrhunderts gebaut hat – und nicht in der Zeit der echten Renaissance, wo er dafür auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wäre. Der Glaube an Gemüseapostel wäre vermutlich von allen Kirchen als schwer häretisch eingestuft worden. Meine Vermutung ist, dass die sehr pflanzenhafte Figur von den italienischen Spätrenaissance-Maler Giuseppe Arcimboldo inspiriert sein könnte, der für Portraits von Menschen in Gemüseformen berühmt war. Das passte auch zu Prag, denn Arcimboldo war ab 1575 Hofmaler des in Prag regierenden Kaisers Rudolf II., einem Regierenden mit viel feinem Sinn für Kunst und Ironie. Wer eine bessere Erklärung für die Figur hat als eine Arcimboldo-Nachempfindung, der melde sich bitte! (DD)

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