Hort der agrarischen Innovation

Die Agrarwirtschaft der Ersten Tschechoslowakischen Republik hatte einen stürmischen Beginn. Zwar erwies sich große Bodenreform von 1919 für die Mehrheit der deutschsprachigen Landbewohner trotz einer gewissen Diskriminierung nicht vollumfänglich als die befürchtete Massenenteigung, aber die gleichzeitige Abschaffung der Adelstitel signalisierte zumindest klar, dass nun für den deutsch-österreichischen adligen Großgutsbesitzerstand harte Zeiten kamen. Die Enteignungen, der eine Parzellierung und Neuverteilung folgte, schufen ein Problem. Wer managte nun den größten Teil des Agrasektors? Und wer war dazu überhaupt proper qualifiziert?

Die Republik erhob bei der Lösung dieses Problems einer nunmehr deutlicher „tschechisierten“ Landwirtschaft den gleichzeitigen Anspruch, den Wirtschaftssektor nach neuesten Erkenntnis zu modernisieren und effizienter zu machen. Ein Schwerpunkt in der Agrarpolitik lag deshalb bei der Ausbildung von Landwirten und der wissenschaftlichen Entwicklung und Verbreitung neuer Agrarmethoden. Eine heute noch sichtbare Spur dieses Bestrebens ist das auch architektonisch bemerkenswerte Haus für Landwirtschaftliche Ausbildung (Dům zemědělské osvěty) in der Slezská č.p. 100/7 in Prag-Vinohrady, dessen Eingangshalle wir links sehen können.

Schon zu Habsburgerzeiten zu Ende des 19. Jahrhunderts hatten Tschechen die Etablierung sogenannter Landwirtschaftsräte (zemědělské rady) begonnen, die eher genossenschaftlich organisiert waren, und deren Zweck war, angehende Landwirte nach neuesten Erkenntnissen auszubilden. 1924 wurde durch den Staat die Tschechische Akademie für Agrarwissenschaft (Česká akademie zemědělských věd) gegründet. Die treibende Karft hinter dieser Gründung und auch der breit angelegten Förderung der Landwirtschaft war Antonín Švehla (wir berichteten über ihn u.a. hier). Der war ein erfahrener Politiker, der es in der Republik sogar dreimal zum Ministerpräsidenten brachte. Seinen Einfluss verdankte er auch der Tschechoslowakischen Agrarpartei (Českoslovanská strana agrární), deren Dauervorsitzender er zwischen 1909 und seinem Tode 1933 war. Es ist einleuchtend, warum er zur Pflege seiner Wählerbasis die Landwirtschaft so großzügig bediente. Und die Akademie ehrt ihn deshalb immer noch. Seine Büste (ein Werk des Bildhauers Leoš Kubíček) thront unmittelbar sichtbar am Treppenhaus neben dem Eingangsbereich. (Bild oberhalb rechts)

Zu den großen und sichtbaren Bauprojekten, die er mitinitierte, sticht neben dem Nationalmuseum für Landwirtschaft (Národní zemědělské muzeum) im Stadtteil Holešovice (wir berichteten hier) in Prag vor allem das Gebäude ins Auge hervor, das in den Jahren 1924 bis 1926 in Vinohhrady für die Akademie für die Agrarwirtschaft gebaut wurde. Für die Planung des Gebäudes wählte man dafür einen der damaligen Star-Architekten, nämlich Josef Gočár (wir berichteten über ihn u.a. hier und hier), einem der wesentlichen Vertreter des tschechischen Kubismus in der Architektur. Der Stil, den er für die Landwirtschaftsakademie wählte, war allerdings ein mit einigen klassizistischen und kubistischen Elementen versehener Funktionalismus, was dem ja sehr modernistischen Anspruch der Akademie entsprach.

Ungewöhnlich ist der Grundriss des sehr repräsentativen Gebäudes, das aus drei Flügeln besteht, die aber nicht rechtwinklig zueinander angeordnet sind. Das war allerdings dem vorgegebenen Verlauf der Straßen hier geschuldet, denn das Gebäude wird von den drei Straßen Slezská, Římská und Blanícká umrahmt. Aber auf jeden Fall sorgt der Grundriss – wenn auch nur aus technischen Zwängen heraus entstanden – dafür, dass der unkonventionelle Charakter des Hauses noch einmal unterstrichen wird. Das es nur den wenigsten Menschen vergönnt ist, das Gebäude mit einem Helikopter zu überfliegen, lohnt sich ein Blick auf die alten Pläne Gočárs, die in der Bibliothek ausgestellt werden. Dazu muss man allerdings auf einen Tag warten, an dem das Ganze für die Öffentlichkeit zu besichtigen ist, etwa am Den Architektury (Tag der Architektur).

Dem Architekten des Gebäudes ging es nicht nur um ein imposantes modernes Äußeres, sondern vor allem um eine stilistische und ästhetische Einheit zwischen dem Äußeren und dem Inneren des Hauses. Entsprechende dekorative Elemente lassen sich überall finden. Schon außen über dem Eingangsportal kann man das von Otto Gutfreund (wir erwähnten ihn u.a. hier), einem der Meister der kubistischen Bildhauerei, angefertigte steinerne Relief mit dem Titel Obilnářství (Getreideanbau) bewundern. Das sehr geometrisch stilisierte Relief zeigt ein Mädchengesicht, das an beiden Seiten von Getreideähren eingerahmt ist.

In der Eingangshalle kann man dann sogleich ein großes bronzenes Relief des akademischen Bildhauers Jan Lauda bestaunen, das im Vordergrund eine weibliche Allegorie mit Pflug und im Hintergrund ein Arbeitspferd zeigt, das den Acker bearbeitet. Das Relief wurde zu Ehren der Brüder Václav und František Veverka angefertigt, die 1827 den sogenannten Ruchadlo-Sturzpflug erfunden hatten, der tiefer pflügen und auch die Erde besser umwälzen konnte als bisherige Pflüge – eine Erfindung, auf die die Tschechen/Böhmen immer sehr stolz waren. Und auch sie unterstreicht die Grundbotschaft des Gebäudes, ein Hort landwirtschaftlicher Innovation zu sein.

Nicht alles von der Einrichtung ist so wie es 1926 war. Aber insbesondere die Treppenhäuser zeichnen sich durch das Licht, das sie einlassen, aus. Zwei der Räume dürfen bei keiner Führung fehlen. Da ist zunächst einmal der große Hörsaal, der mehreren hundert Studenten der Akademie Platz bot. Der mit Holz getäfelte Saal war technisch auf dem letzten Stand. Er gehörte zu den ersten akademischen Hörsälen der Welt, die mit Projektoren Filme oder Diabilder auf den Bildschirm hinter dem Pult zeigen konnten. Das war eine kleine didaktische Revolution.

Der ganze Stolz der Akademie ist jedoch der Blaue Salon, einer der im 2. Stock gelegenen Tagungs- und Seminarräume. Hier hat Gočár sich besonders intensiv einer kohärenten Raumgestaltung gewidmet. Von dem berühmten runden Tisch über die kubistischen Lampen zu den dezent integrierten wandschränken ist alles aus einem Guss. Kein Wunder, dass dieser einzigartige Raum auch gerne für FIlmaufnahmen für Filme genutzt wird, die in den 1920er und 30er Jahren spielen, so etwa der Historienspielfilm Masaryk (dt. Der Verrat von München) von 2016, der vom tschechoslowakischen Außenminister Jan Masaryk (Sohn des ersten Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk) in der Zeit des Münchner Abkommens 1938 abhandelt.

Ein anderes Highlight ist die im Keller gelegene Antonín Švehla-Bibliothek. Sie ist schon ob ihrer Größe einzigartig, denn sie ist die drittgrößte landwirtschaftliche Bibliothek der Welt überhaupt und enthält 1,2 Millionen Bände und darunter auch unschätzbar wertvolle Raritäten wie etwa das illustrierte Herbarium des in Prag wirkenden italienischen Arztes und Botanikers Pietro Andrea Mattioli aus dem Jahr 1562. Alleine die alten Karteikästen (Bild links) sind in ihrem Umfang schlichtweg beeindruckend.

Ein außergewöhnliches Gebäude also, das bis heute seine Funktion noch ausübt. Neben der Akademie haben sich – es ist ja ein Riesengebäude! – noch andere Institutionen hier angesiedelt, die mit Landwirtschaft zu tun haben, etwa die Staatliche Veterinärverwaltung (Státní veterinární správa České republiky), die auf dem Dach des Hauses einige Bienenstöcke aufgestellt hat, oder das Institut für Agrarökonomie und Information (Ústav zemědělské ekonomiky a informací). Die Präsenzbibliothek (Bild rechts) erfreut das Publikum regelmäßig durch landwirtschaftsbezogene Ausstellungen. Der ursprünglichen Idee, zur Modernisierung der Landwirtschaft durch Wissenschaft beizutragen, wird der Komplex in der Tat gerecht. Und das Gebäude selbst ist ein dazu passendes und geradezu archetypisches Beispiel für die modernistischen Tendenzen in der Ersten Republik, das nichts von seiner künstlerischen Attraktivität verloren hat. (DD)

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