Knopf im Auge: Das Firmengelände Koh-i-Noor in Vršovice

Niemand sollte das nachmachen und sich einen Druckknopf aufs Auge nähen lassen. Es verlangt ja auch niemand. Aber als Logo („Koh-i-Noor. Symbol der Qualität“, lautet die deutsche Übersetzung des Textes) erreicht dieses Wandgemälde zweifellos den erwünschten Zweck, auffällige Werbung zu betreiben. Zu sehen ist es hier auf dem bröckelnden Putz der ehemaligen Fabrik von Koh-i-Noor im Stadtteil Vršovice (Prag 10).

Das Firmenlogo wurde im Jahre 1920 von František Kupka gestaltet, einem der bedeutendsten Pioniere der abstrakten Malerei der damaligen Tschechoslowakei. Es handelt sich mithin um ein echtes Kunstwerk. Zu der Zeit, als Kupka das Logo entwarf, bestand die Firma Koh-i-Noor allerdings bereits seit 18 Jahren und bewegte sich auf ihre wirtschaftliche Blüte zu. An dieser Stelle muss dann doch klargestellt werden, dass es sich dabei nicht um die 1790 von Joseph Hardtmuth gegründete und etwas bekanntere Firma Koh-i-Noor Hardtmuth handelt, die bis heute einer der weltweit größten Produzenten von Bleistiften und Künstlerbedarf ist. Die Firma, von der hier die Rede ist, und deren alte Firmenanlage in der Vršovická 478/51 in Prag 10 liegt, war ein führender Hersteller und Vertreiber von Kurzwaren und Textilbedarf, wobei die Druckknöpfe anscheinend das imageprägende Produkt waren. Tatsächlich hat die Firma dem Druckknopf erst weltweit zur Bekanntheit und Verbreitung verholfen.

Gegründet wurde das Unternehmen 1902 zunächst unter dem Namen Waldes & Co. von dem Industriellen Jindřich Waldes zusammen mit seinem Partner, dem Ingenieur Hynek Puc. Erst später wurde die Firma in Koh-i-Noor umbenannt. Die Namensgleichheit der Firma mit dem großen (und heute wesentlich bekannteren) Bleistiftproduzenten schien wohl wegen der Unterschiedlichkeit der Produkte nie ein Problem gewesen zu sein. Anscheinend versprachen sich die jeweiligen Firmen von dem Namen des legendären gleichnamigen britischen Kronjuwels, dass ein wenig von dessen Glanz und Ruhm auch auf sie abfalle. Wie dem auch sei, die Firma expandierte, nicht zuletzt wegen der technischen Verbesserungen des Druckknopfes, die Puc einführte (etwa den Einbau von kleinen Federn). Bald wurden international neue Firmensitze in Warschau, Dresden, New York, Barcelona und Wien eröffnet. Der Export in insgesamt 73 Länder machte 80% des Umsatzes aus. Zunächst einmal nur für den amerikanischen Markt entwarf man die Markenbezeichnung Miss KIN (wobei KIN die Abkürzung von Koh-i-Noor war), für den man das Kupkasche Logo mit dem Mädchen, das einen Druckknopf auf dem Auge hat, ursprünglich entwickeln ließ. Die Idee zum dem Logo soll übrigens Waldes während einer Seereise gekommen sein, wo er eine Amerikanerin namens Elisabeth Coyne kennenlernte, die sich sich auf dem Deck spielerisch ein übergroßes Werbeexemplar eines seiner Druckknöpfe auf ihr Auge setzte.

1939 begann der tragische Teil der Geschichte der Firma im Zeichen von Nationalsozialismus und Kommunismus. Waldes war jüdischer Herkunft und wurde kurz nach dem Einmarsch von den Nazis inhaftiert und zuerst ins Konzentrationslager in Dachau und dann nach Buchenwald deportiert. Die Firma wurde enteignet und „arisiert“ (d.h. deutschen Besitzern übergeben). Waldes‘ Familie war vorher ins Exil geflohen, aber er sah sich als tschechischer Patriot, der zu bleiben gedachte, und das brachte ihn ins Konzentrationslager. Seine Familie zahlte 1941 vom Exil aus die ungeheure Summe von 1 Million Reichsmark als Lösegeld an die Nazis und verzichtete zu deren Gunsten auf ihre Patente. Die Nazi schoben ihn darob nach Portugal ab, von wo aus er mit dem Schiff nach Kuba übersetzte, um von da aus dann in die USA zu gelangen. In der Sekunde, in der er in Havanna den Erdboden betrat, brach er tot zusammen. Die Umstände, die dazu führten, sind immer noch ein wenig mysteriös.

Der Tragödie zweiter Teil: Eigentlich hätten die Erben von Waldes nach dem Krieg in der Zeit der wieder erstandenen Republik nach 1945 die Firma als jüdische Naziopfer rückerstattet bekommen müssen. Stattdessen wurde die Firma schon 1945 von der Regierung verstaatlicht, da man ausgerechnet die jüdische Familie Waldes formal als Deutsche einstufte – ein groteskes Unrecht gegenüber Opfern der Naziherrschaft. Dass die Kommunisten, die 1948 an die Macht kamen, ebenfalls nicht an Restitution dachten, versteht sich von selbst. Die Firma behielt ihren Namen, aber durch die Integration von enteigneten sudetendeutschen Firma entstand so etwas wie ein neues Konglomerat. 1989 endete der Kommunismus und man hätte erwarten können, dass den Erben nun Gerechtigkeit widerfahren würde. Stattdessen wurde die Firma 1994 hastig privatisiert ohne sie hinreichend auf Restitutionsansprüche zu überprüfen.

Die Hinterbliebenen kämpften, angeführt von Věra Waldes, einer Nichte von Jindřich Waldes mit Leumund als legendäre Widerstands- kämpferin gegen die Nazis, gerichtlich um ihr Recht. 2009 sah es nach einem positiven Gerichtsurteil aus, dass ihnen das auch gelingen werde, aber dann, im Jahre 2011, beschloss das Verfassungsgericht jedoch letztinstanzlich, dass die Restitutions- und Schadensersatzansprüche der Famile Waldes nichtig seien. Hauptargument war, dass zu diesem Zeitpunkt nur von den Kommunisten nach 1948 enteigneter Besitz restituiert werden könne, nicht aber Eigentum, das 1945 gemäß der Beneš-Dekrete den Besitzern (überwiegend Deutschen) weggenommen wurde. Ob damit der Gerechtigkeit genüge getan wurde, kann ernstlich bezweifelt werden.

Zu dieser Zeit lief die Firma unter neuen Besitzern international erfolgreich weiter. Nur die alte Ur-Fabrik in Prag-Vršovice stand dabei immer weniger im Mittelpunkt. Nur noch kleine Teile des großen Komplexes wurden von der Firma als Produktionsstätte genutzt. Teile wurden vermietet, der größte Teil stand leer und verfiel. Inzwischen hat Koh-i-Noor das Gelände ganz aufgegeben und die Produktion vollständig in andere Standorte verlegt. 2019 wurde das Areal an die Immobiliengesellschaft Pražská Správa Nemovitostí des Milliardärs Václav Skala verkauft. Der verkündete 2020, dass das Areal grundlegend renoviert und umgebaut werde. 600 Lofts und Apartments sollen nach den Plänen des Architekturbüros Jakub Cigler (erwähnten wir bereits u.a. hier und hier) entstehen. Dabei sollte die alte historische Industriearchitektur gewahrt bleiben – was übrigens im selben Jahr verpflichtend wurde, da der Komplex unter Denkmalschutz gestellt wurde. Die Bauarbeiten haben allerdngs noch nicht begonnen.

Womit wir nun endgültig bei dem historischen Industriedenkmal der Firma Koh-i-Noor angekommen sind. Es handelt sich um ein rechteckig geschnittenes großes Areal, das nach und nach in Etappen von der Firma im Zuge seiner wirtschaftlichen Entwicklung aufgebaut wurde, und heute von den Straßen Vršovická (Haupteingang gleich neben der Tramstation Koh-i-Noor) im Süden, Altajská im Osten, Kavkazská im Norden und Moskevská im Westen begrenzt wird. Das erste Gebäude (Bild oberhalb links, gelegen an der Ecke Moskevská/Vršovická, wurde in den Jahren 1906 bis 1908 nach den Plänen des Architekten und Bauunternehmers Alois Richter erbaut, der Prag schon durch andere funktionale Großbauten bereichert hatte, etwa der Jerusalem Synagoge (wir berichteten hier) und dem Krankenhaus in Bubeneč.

Es handelte sich um ein einfach gestaltetes Verwaltungs-gebäude im frühmodernen Stil, dem eine einetagige Fabrikhalle beigefügt wurde. Im Kern steht das Gebäude hier immer noch. Es wurde allerdings 1980 so umfassend umgebaut, dass innen ein leicht brutalistisch daherkommender Sozialistischer Realismus vorherrscht. Vor allen bei den recht schaurig-schönen Wand- und Deckendekorationen (Bild oberhalb links) kann man das bei ab und ab stattfindenden Führungen anschaulich beobachten. Man muss schon sehr suchen, um an wenigen Stellen noch winzige Spuren des Originalstils zu finden. Bei den Bodenfließen im Treppenhaus (links) kann man etwa noch die typisch historistische Ornamentik aus der Zeit von Richters Originalbau bewundern.

Dem Gebäude schließt sich die Produktionshalle an, die zwar 1980 ebenfalls umgebaut wurde, aber architektonisch im Kern noch so ist, wie sie Richter ursprünglich geplant hatte.. Produziert wird hier kein Druckknopf und kein Reißverschluss mehr. Immerhin stehen dort noch einige alte Maschinen, die im Massen die kleinen und filigranen Metallteilchen stanzten, die für die Produktion nötig waren. Dass die Halle mit einer Dachkonstruktion versehen war, die viel Licht von oben hineinließ, und große Fenster an den Seiten hatte, klingt heute trivial, war aber damals ein echter sozialer Fortschritt. Bei Koh-i-Noor wurde übrigens nicht nur das Kapitel dunkler und stickiger Fabrikhallen beendet, auch sonst sorgte man für sozialverträgliche Verhältnisse. Es gab für die Arbeiter Bäder, Sporträume, Aufenthaltsräume und vieles mehr. Waldes sah sich als moderner und sozialer Unternehmer.

In den Jahren 1912 bis 1917 wurde an der Seite zur Kavkazská (Norden) ein zusätzlicher größerer Bau nach den Plänen des Architekten und Städteplaners Ladislav Skřivánek dem Areal hinzugefügt. Das ist übrigens das Gebäude, an dem das im großen Bild oben zu sehende Logo aufgemalt ist. Skřivánek war Schüler des östereichischen Architekten Friedrich Ohmann (wir erwähnten ihn u.a. hier), der dem Historismus verpflichtet war, was erklären mag, warum das dreistöckige Gebäude mit seinem Walmdach zwar durchaus modern ist, aber doch ein wenig traditionalistischer aussieht als ältere Gebäude Richters. Bisweilen wird es sogar als geradezu klassizistisch bezeichnet, aber es scheint eher, dass der Architekt bewusst eine Fusion von Moderne und Tradition erreichen wollte, was damals in der Tschechoslowakeit als „nationaler Stil“ populär war.

Skřiváneks Gebäude war schon deutlich größer als das Richtersche. Aber das monumentalste Gebäude im Werksareal kam dann im Jahre 1920. Nach den Plänen von Jindřich Pollert, einem Architekt jüdischer Herkunft, den die Nazis 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt ermorden sollten, entstand an der Ecke Vršovická/Altajská (Südosten des Areals) ein vierstöckiges Firmengebäude mit satten 36 Fensterachsen und einem auffälligen Mittelrisalit. Der klassizistische (und somit wohl stilistisch konservativste) Bau dominiert geradezu das Gesamtbild des Firmengeländes. Was Größe und stilistische Opulenz angeht, so spiegelt die Entwicklung der drei Gebäude von 1906 bis 1920 im Grunde die rasante wirtschaftliche Entwicklung der Firma Koh-i-Noor im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts wieder. Es ging stetig bergauf.

Das Areal ist natürlich normalerweise nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Aber in Prag gibt es ja gottlob zahlreiche Aktionstage, die diese Zugänglichkeit wenigstens an einigen Tagen ermöglichen, als da wären Open House Prague oder der Den architektury (Tag der Architektur). Einfach mal im Netz nachschauen, ob sich da gerade eine Gelegenheit zur Besichtigung (mit Führung, allerdings in der Regel in Tschechisch) bietet. Die sollte man nutzen, denn irgendwann beginnt die Umgestaltung in Apartmentblocks. Dann ist zwar der Verfall beendet, aber das Gelände wird – trotz der Bestimmungen des Denkmalschutzes – nicht mehr ganz das großartige Indstriedenkmal sein, das es bisher war. Also: Zeitnahe Besichtigung empfohlen! (DD)

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