- Hans Weber
- April 24, 2025
Kuh und Kalb
Selbst hartgesottene Freunde der Architektur des realsozialistischen Brutalismus müssen sich möglicherweise erst einmal an den Anblick gewöhnen. Dabei war das PZO Centrotex Gebäude (budova PZO Centrotex) am Náměstí Hrdinů (Heldenplatz) im Stadtteil Pankrác als das Schaufenster der ČSSR zur großen weiten Welt geplant.

Das Umfeld tut sein übriges. Man muss schon geschickt eine Perspektive aus dem kleinen Heldenplatz aussuchen, um so etwas wie das große Bild oben zu knipsen. Ansonsten ist das Ganze von breiten und lauten Verkehrsadern umflossen und der Großteil der Architektur drumherum repräsentiert den eintönigen Teil der modernen Architekur. Das Gebäude selbst wurde von 1974 bis 1977 nach Plänen der Architekten Václav Hilský und Otakar Jurenka durch eine jugoslawische Baufirma erbaut. Hilský war unter anderem für seine Beteiligung am Wiederaufbau des zerstörten Dorfes Lidice bekannt, in dem die Nazis 1942 einen Massenmord begingen (Nové Lidice). Und für Jurenka sollte das Centrotex Gebäude sein bedeutendstes Werk bleiben.

Auftraggeber und erster Bewohner für das Gebäude war das staatliche Unternehmen für Außenhandel (Podnik zahraničního obchodu, kurz PZO genannt), das viele Unterfirmen hatte, die für bestimmte Güterkategoriern zuständig waren. Centrotex war, wie der Name suggeriert, für den Textilhandel zuständig. Im Jahre 1974 war nämlich der aus den 1920er Jahren stammende Messepalast (Veletržní palác) in Holešovice (Prag 7) abgebrannt, der der PZO als Hauptzentrale diente (wir berichteten hier). Es wurden sofort neue Gebäude für die einzelnen Subbetriebe in Angriff genommen, etwa das Gebäude der PZO Koospol (Budova PZO Koospol) in Vokovice (Prag 6) für die Handelssektion für landwirtschaftliche Güter (wir berichteten hier). Und Centrotex landete in Pankrác. Bei allen neuen Gebäuden hegte man den Anspruch, architektonische Avantgarde vorzeigen zu können.

Denn der dem Bankrott entgegendümpelnde Realsozialismus wurde zunehmend vom Handel und den Devisen aus dem Westen abhängig. Dem gegenüber wollte man als dynamisch-moderner Partner erscheinen, auch in der baulichen Außendarstellung. Deshalb wurden auch die meisten repräsentativen Räume des Centrotex Gebäudes damals mit Kunstwerken ausgeschmückt – insbesondere natürlich Textilien, wie Wandteppiche, Vorhänge oder Teppiche. Auswärtige Handelsdelegationen sollten beeindruckt werden ob der Errungenschaften der Planwirtschaft. Und da spielte die Architektur eine Rolle. Der Brutalismus war ja in den 1970er Jahren nicht nur (wenngleich dort besonders) der Avantgardestil des Realsozialismus, sondern auch im Westen. Im Zeitkontext passte die Ästhetik zum Anliegen – ohne Zweifel!

Lassen wir hier an dieser Stelle Architekt Hilský zu Wort kommen, der später meinte: „Die Arbeit des Architekten sollte Licht und Schatten haben, sie sollte kompliziert gestaltet sein, es reicht nicht aus, nur einen Grundriss zu erfinden und dann das Gebäude herauszubringen. Der Architekt muss das Gesamtkonzept im Auge haben und versuchen, dem Gesamtwerk einen plastischen Ausdruck zu verleihen. Und genau das habe ich bei der Lösung des Centrotex Palace versucht.“

In er Tat enthält das Gebäude alle stilgerechten Ingredenzien, die ein brutalistisches Gebäude erfüllen muss: Roher Beton, Stahl und Glas zu kühnen und groben geometrischen Formen zusammengefügt. Mehrere Kuben sind horizontal und vertikal kombiniert. Im Grunde sind es so zwei unterschiedlich große Gebäude, die zu einem verbunden sind. Eines (im Süden) ist 74 Meter hoch und hat am Sockel eine Grundfläche von die Grundrisse des Gebäudesockels betragen etwa 60 x 20 Meter, das andere, nördliche, Gebäude ist erheblich flacher und misst 40 x 20 Meter Grundfläche. Irgendwie sieht das am Ende doch witzig aus, was sich auch in dem Nicknamen niederschlug, den die Prager dem Gebäude schon bald gaben: Kuh und Kalb (kráva a tele). Zumindest bdeuetet das eine Form der Anerkennung von Außergewöhnlichkeit seitens der Prager.

Hinzu kommen die betongesättigten Dachaufsätze (für Technik), die mit einiger Phantasie tatsächlich an Kuh- oder Kalbshörner erinnern und dem Ganzen vielleicht nicht das schönste, aber doch ein auffälliges Aussehen geben. Unter derm Gebäude wurde gleichzeitig 1974 auch die Metrostation Pražského povstání (Prager Aufstand), die mit ihrem Namen daran erinnert, dass in der Umgebung im Mai 1945 schwere Kämpfe des Prager Aufstands tobten, zu deren Gedenken man ein passend brutalistisch gestaltetes Denkmal anbrachten, über das wir bereits hier berichteten. Der geradezu surreal gestaltete Lüftungsschacht (Bild rechts) der Metrostation ist ästhetisch dem Stil des Centrotex-Baus angepasst und lässt das brutalistische Gebäude noch brutalistischer erscheinen als es sowieso schon ist.

Obwohl das Bauwerk immer noch nach Centrotex benannt wird, ist kein Centrotex mehr drin. Die Firma wurde nach dem Fall des kommunistischen Regimes privatisiert, hob aber wirtschaftlich nie richtig ab. Schulden türmten sich auf. Eine zu dem Zeitpunkt noch nicht privatisierte Bank vergab einen Riesenkredit zur Neupositionierung des Unternehmens. Es mögen alte Beziehungen eine Rolle gespielt haben, jedenfalls nahm man dabei die Sache mit den Sicherheiten recht lax. 1999 war klar, dass die Bank die 1,5 Milliarden Kronen nicht wiedersehen würde – ein Skandal, der damals Wellen schlug. Und 2000 kam die dann Liquidation von Centrotex.

Kurz darauf zog das Innenministerium der Tschechischen Republik hier ein, denn das Gebäude bot genügend geeigneten Platz für die dort beschäftigten Bürokraten. Ja, die Kollegen vom Außenministerium haben mit dem barocken Palais Czernin möglicherweise dann doch einen noch schöneren Arbeitsplatz (wir berichteten), aber das Gebäude hier funktioniert und ist auch noch zentral und verkehrsgünstig (mit eigenem Metroanschluss!) gelegen. Unten im Souterrain befinden sich sogar Läden zum Einkaufen. Und auch für die Architektur gilt: De gustibus non est disputandum! Für die, die kein Latein können: Auf Tschechisch heißt das „Proti gustu žádný dišputát.“ So auch beim Centrotex-Gebäude: Wenn es auf den ersten Blick nicht gefällt, muss man eben mehrmals hingucken. DD)
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