Kulturzentrum im Sokol-Kino

Ursprünglich war es ein Kino: Das heutige Kulturzentrum Vzlet (was auf Deutsch so viel bedeutet wie Höhenflug oder Aufstieg) im Stadtteil Vršovice (Prag 10). Der dynamisch aufstrebene Namen passte zum ursprünglichen Betreiber. Das war nämlich die Turnerbewegung Sokol.Und die war eine der großen nationalen Bewegungen, die sich im 19. Jahrhundert gegründet hatten, nicht nur, um Sport zu treiben, sondern sichtbar im Sinne eines tschechischen Patriotismus zu wirken. Als man dann 1918 die habsburger Fremdherrschafft los war, galt der Sokol als eine der staatstragenden Massenorganisationen der Ersten Tschechoslowakischen Republik – über die wir u.a.schon hierhierhier und hier berichtet haben.

Kein Wunder, dass die tschechisch-böhmische Politik dem Sokol oft wohlgesonnen war. So auch der Rat der Stadt Vršovice (das erst 1922 Stadtteil von Prag wurde). Der schenkte schon 1902 dem örtlichen Sokol ein Grundstück am Rande des schönen Herold-Parks (Heroldovy sady). Das nutzte man am Anfang als schlichten Sport- und Trainingsplatz. 1920 baute man das Ganze aus. Ein Teil blieb Trainingsplatz, aber es wurde nach den Plänen des Architekten und Bauunternehmers Bohumil Hrabě auch ein großes Gebäude im Stil des Art Déco errichtet, das 1921 hier in der Holandská 669/1 eingeweiht wurde. Ja, das enthielt natürlich auch einige kleinere Räumlichkeiten zum Umkleiden und zur Lagerung von Sportgeräten. Aber in der Hauptsache war es ein Kino. Und das Kino war damals – ohne Konkurrenz von Fernsehen und Youtube – eine neue und sensationelle Sache. Für den Sokol erwies sich das Ganze als Goldgrube.

 

Zudem ließ sich das Gebäude auch vielseitig als Ort kultureller und gesellschaftlicher Veranstaltungen nutzen. Am Ende sprudelten die Einnahmen so, dass man sich sogar jetzt ein großes und modernes eigenes Vršovicer Sokol-Gebäude für die eigentlichen sportlichen Betätigungen des Sokol leisten konnte, das dann in den Jahren 1930 bis 1933 am günstig gelegenen Vršovice Platz (Vršovické náměstí) errichtet wurde. In diesem funktionalistischen Großgebäude (man sieht es im Bild rechts) hat der Orts-Sokol immer noch seine Zentrale und Sportstätte. Das Kino war also eine lohnende Investition gewesen. Und es wurde vom Sokol auch weiterhin als kleines Sportzetrum und vor allem aber als Kino genutzt. Bis 1948. Da kamen die Kommunisten an die Macht, die von je her etwas gegen den bürgerlichen Sokol hatten. Die enteigneten und verstaatlichten das Gebäude. Bis Mitte der 1970er Jahre wurde aber das nunmehr staatliche Kino weiter betrieben. Dann verwandelte man es in ein Lager für das Nationale Filmarchiv (Národní filmový archiv).

Schon diese Fehlnutzung tat dem Gebäude nicht gut. Als dann der kommunistische Spuk 1989 vorbei war blieb das Ganze im Besitz der Hauptstadt Prag, die aber nichts damit anzufangen wusste, und es erst im Jahre 2002 der Stadtteilverwaltung von Prag 10 übergab, zu der Vršovice gehört. Da wurde der Zustand des Vzlet bereits meist als „verwüstet“ beschrieben. Aber man hatte eine scheinbar rettende Idee, Man fand 2007 mit Michael Klang einen wahren Trauminvestor. Der war Akademischer Architekt mit Erfahrung im Theaterbau, eine TV-Personality, ein ausgewiesener Multimedia-Experte, ein Mann mit Ideen. Gute Ideen hatte er auch für das Vzlet und was er schuf, konnte sich auch sehen lassen. Aber 2009 ging ihm das Geld aus. Und so musste er 2012 seinen Mietvertrag auflösen und Prag 10 musste sehen, wie es weitermachen konnte. Zwar baute man weiter, aber vergass dabei, dass man nun für so etwas eine öffentliche Ausschreibung brauchte. 2016 wurde der Stadtbezirk deshalb zu einer Geldstrafe von 100.000 CZK verurteilt. Nach der nun fälligen Ausschreibung konnte man 2021 das neu auferstandene Vzlet eröffnen.

Als Betreiber fungierte nun, das der Sokol nicht mehr im Spiel war, ein Verbund von drei kulturtreibenden Gruppen, nämlich die1996 gegründete Theatergruppe Vosto5, das international bekannte klassischenMusikensemble Collegium 1704 und das in der Nähe gelegene Programmkino Cinema Pilotů (Kino Pilot).Um das gemeinsame Projekt zu finanzieren, gab es eine Crowdfunding-Kampagne , bei der es gelang, über 1,2 Millionen CZK aufzubringen. Das, was nun geboten wird, scheint dem Publikum zu gefallen. Man erhebt einen modern-avantgardistischen Anspruch, aber nicht abgehoben und über die Generationsgrenzen attraktiv. So kommt etwa neben kabaretistischem oder experimentellen Theater auf – dem Collegium 1704 sei Dank – klassische Musik nicht zu kurz. Im Bild sieht am ein Terzett aus dem Kollegium, das sich auf barocke Musik spezialisiert hat.

Darüber hinaus gibt es noch eine Kunstgalerie für Wechselausstellungen und es gibt auch Kindertheater. Zweifellos handelt es sich um eines der attraktivsten Kulturzentren Prags.Und dann gibt es noch etwas einzigartiges, wenngleich ursprünglich aus der Not (2021 grassierten noch Covid-Maßnahmen)geboren. Mit dem Mediasystem von Brejlando führte man das Theater in das digitale Zeitalter ein. Theater am Computer digital genießen konnte man schon vorher, aber hier kann man nun in realweltlichen Aufführungen oder zu Hause vermittels 3D-Brillen den Raumblick des Szenenbildes um 360 Grad genießen, weil eine Kamera auf der Bühne es live filmt. Aus der Notgeburt ist inzwischen ein sogar Zugpferd geworden.

Über die Freude über die avantgardistische Kultur, die hier geboten wird, sollte man aber auch nicht die Architektur vergessen. Die von Michael Klang eingeleiteten Modernisierungen fügen sich auf originelle, aber harmonische Weise in den etwas konventionell klassizistisch angehauchten Art Déco-Bau von 1921 ein. Die Wandbemalungen im Hauptsaal sind zum Beispiel an Kunststile der 1920er Jahre (Art Deco und Kubismus) angelehnt – siehe Bild oberhalb links. Und es sind natürlich Originalrelikte zu sehen. Besonders stolz ist man auf die dekorativ eingerahmte Kinoleinwand, die sich (gut restauriert, natürlich) seit dem Jahr 1923 hier befindet (Bild rechts).

 

Aber natürlich ist nicht alles so geblieben, wie es dereinst war. Zu den größeren baulichen Veränderungen nach 2007 gehört ein linksseitiger schmaler Anbau in einem eher funktionalistischen Stil mit viel Beton. Trotz der Stildifferenz fällt dieser Anbau aber von außen kam als Fremdkörper auf. Dort befindet sich heute der Zuschauereingang zum Hauptsaal. Durch den Eingang (Bild links) kommt man über eine steile offene Treppe ein Stockwerk nach oben, wo sich eine Vorhalle (mit einer gut ausgestatteten Bar für die Pause), die Garderobe und die seitlichen Eingänge zum Saal befinden. Das Interieur des Anbaus ist strikt modern und spielt im Gegensatz zum Saal ästhetisch nicht auf die 1920erJahre an.

Dort, wo in der Mitte des Erdgeschosses anscheinend früher (also vor dem Anbau) mal der Haupteingang war, befindet sich heute der Eingang zum stilechten Café/Restaurant, dem Kafe Vzlet, das auch außerhalb von Aufführungszeiten geöffnet hat und daher auch von Nicht-Theaterbesuchern wohl des öfteren gerne frequentiert wird. Anders gesagt: Der Laden läuft. Das rundet das Angebot des Vzlet ab, dass nun eine würdige und kulturell doch sehr abwechslungsreiche Nachfolge des alten Sokol-Kinos darstellt. (DD)

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