Nationalkirche mit Mietwohnungen

Der vergoldete Kelch auf dem Dach ist von weithin sichtbar und wohl fast so etwas wie ein Wahrzeichen des Stadtteils Holešovice (Prag 7). Überhaupt ist das Gemeindehaus der Hussitischen Kirche (Husův sbor) dort ein ungewöhnliches Gebäude. Das zeigt sich nicht zuletzt auch im Inneren des Gebetsraums, wie man hier sieht.

Aus der Nähe betrachtet weiß man nicht, ob man es bei dem Gebäude in der Farského 1386/3 mit einem funktionalistischen Wohnhochhaus oder einem hyper-modernistischen Gotteshaus zu tun hat. Tatsächlich ist es beides und noch viel mehr. Blicken wir erst einmal zurück in die Geschichte: Im Mai 1927 wurde in Holešovice die örtliche Gemeinde der Tschechoslowakischen Kirche (Církev československá, CČS) gegründet. Die CČS, die sich ab 1971 Tschechoslowakische Hussitische Kirche (Církev československá husitská) war 1920 vondem ehemals katholischen Theologen Karel Farský (nach dem die Straße Farsého benannt ist) als eine Art tschechischer Nationalkirche mit reformerischen Modernitätsanspruch gegründet worden. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, waren die Kirchenneubauten der CČS oft in jeder Hinsicht – sowohl in Funktion als auch Architektur – ausgesprochen avantgardistisch (ein Beispiel stellten wir u.a. hier vor).

 

Soweit war man in Holešovice 1927 noch nicht. Ein Gotteshaus hatte man noch nicht und die Gründung der Gemeinde fand erst einmal im Freien statt. Man musste zunächst für das erste eine ehemalige kleine Turnhalle für Gottesdienste anmieten. Später diente ein Raum in einer Realschule demselben Zweck. Aber so konnte es natürlich nicht weitergehen. Schon im Juni 1927 gründete die neue Gemeinde eine Baugenossenschaft, die die Finanzierung eines Gotteshauses organisieren sollte. Man wählte als potentiellen Architekten Karel Truksa aus, der schon einige Erfahrung mit Kirchen der CČS hatte (ein Beispiel zeigten wir hier), den man allerdings nach den ersten Projektentwürfen durch František Kubelka ersetzte. Aber auch dessen Pläne ließen sich ohne Geld nicht umsetzen. Erst als der Abgeordnete Bohuš Rodovský, ein wohlhabendes Gemeindemitglied und Freund von Präsident Masaryk (dessen Familie er unterstützte, als sich dieser ab 1915 im Exil befand), eine günstige Hypothek vermittelte, konnte es losgehen. Und so wurde das Gebäude nach Kubelkas Entwürfen in den Jahren 1935 bis 1937 ganz und gar im Stil des Funktionalismus realisiert.

Nun waren Kirchen der Tschechoslowakischen Kirche nie nur Kirche, sondern auch Gemeinde-, Sozial- und Kulturzentrum für die Gemeinde. Das war auch hier so. Das Gebäude enthält neben dem Gebetsraum auch Räume der Kirchenverwaltung, Sozialeinrichtungen, einen Kindergarten und mehr. Typisch für Zentren der CČS ist auch die Einrichtung eines Kolumbariums, einer Urnenbegräbnisstätte, im Keller. Originell war hingegen, dass man das Ganze finanziell tragbar machte, indem es dort auch Mietwohnungen gab. Zu den prominenteren Bewohnern, die hier schon bald einzogen, gehörte der Dichter und Schriftsteller František Hrubín (der sich nach 1948 so gegen die Vereinnahmung von Schriftstellerei durch die Kommunisten wehrte, dass er Publikationsverbot erhielt). Das erklärt, warum das Gemeindehaus ohne den um ein Patriarchenkreuz ergänzten Kelch auch dem Dach (das Symbol aller reformerischen Kirchen im Lande) wohl eher wie ein bloßes Miets- oder Bürohaus aussähe.

Spätestens, wenn man sich dem Eingang nähert, verfliegt aber dieser Eindruck. Schon die weiten Eingangstüren sind mit dem roten Kelchsymbol der Hussiten geschmückt. Schon durch das Foyer sieht man die unglaublichen Lichteffekte des Gebetsraums, der das Kernstück des Ganzen bildet. Dessen Apsis wurde von dem Maler und Glaskünstler Čeněk Otakar Jandl mit Buntglasfenstern versehen. Das Halbrund beleuchtet den Altar mit dem großen Kreuz mit Christus, das ein noch nach Entwürfen des berühmten verstorbenen Bildhauers Josef Václav Myslbek, dem Schöpfer der berühmten Reisterstatue des Heiligen Wenzels auf dem Wenzelsplatz. Unter der Glasapsis befindet sich im Halbrund ein Relief des Bildhauers Ladislav Novák. Es stellt Szenen aus dem Leben von Karel Farský und der Gründung der Tschechoslowakischen Kirche dar.

An den Seiten des Gebetsraums finden sich weitere Glasfenster von Jandl, diesmal aber nicht abstrakt gehaltene, sondern an jeder Seite je drei Portraits bedeutender historischer Persönlichkeiten des böhmischen Christentums und des Hussitentums. Das sind v.l.n.r. der Nationalheilige Wenzel, der Hussitenfeldherr Jan Žižka, der Frühreformer Jan Hus (auf dem Scheiterhaufen) auf der einen Seite, den (einzigen hussitischen) böhmischen König Jiří z Poděbrad, die Slawenapostel Kyrill und Method, der reformatorische Pädagoge Jan Amos Komenský (Comenius) auf der anderen. Dass ein Nicht-Heiliger und Kriegsherr wie Žižka hier auf einem Kirchenfenster abgebildet ist, unterstreicht, dass es bei der Gründung der Tschechoslowakischen Kirche nicht nur um Religion, sondern vor allem auch um eine politische – also tschechisch-nationalistische – Angelegenheit ging. (DD)

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