Ritter mit Geige im Gefängnis

Der gedrungene und zylindrisch runde Dalibor Turm, auch Daliborka genannt, auf der Prager Burg mag zwar nicht so hoch sein wie der auf diesem Bild dahinter befindliche Schwarze Turm (Černá věž), aber er übertrifft ihn bei weitem an romantischen Flair.

Das hat auch etwas mit dem Namensgeber zu tun, dem böhmischen Ritter Dalibor von Kozojedy (Dalibor z Kozojed). Viel weiß man über ihn nicht. Anscheinend hatten sich während eines Bauernaufstandes 1496 die Leibeigenen auf dem benachbarten Anwesen von Adam Ploskovský z Drahonic gegen ihren Herrn erhoben und zwangen ihn mit Gewalt, sie freizusetzen. Zur Sicherheit, dass der es sich wieder anders überlegen könnte, wenn er nur wieder genügend Kräfte erlangt hatte, begaben sie sich unter den Schutz des benachbarten Ritters Dalibor. So berichtete es später der Geschichtsschreiber Václav Hájek z Libočan in seiner als Quelle oft recht unzuverlässigen Böhmischen Chronik von 1541. Das deutet an, dass Dalibor eine Art Robin Hood und Beschützer der Unterdrückten war. Nüchtern denkende Historiker, wie etwa  František Ladislav Rieger im Jahre 1862, korrigierten schon früh dieses idealisierte Bild.

Denn: Die historischen Quellen – hauptsächlich Gerichtsakten – legen eher nahe, dass Dalibor den Aufstand zur Gelegenheit genommen hatte, sich des Eigentums seines Nachbarn zu bemächtigen, wozu auch passt, dass er schon mehrfach wegen Unterschlagung (darunter sogar des Eigentums seines Vaters) und Diebstahl vorbestraft worden war. Auf jeden Fall verurteilte das Landgericht ihn 1497 wegen Aufwiegelung zum Aufstand und der Aneignung von Eigentum zum Tode. Bis zur Hinrichtung sollte er im Gefängnis sitzen. Wie es der Zufall wollte, hatte oben an der nordöstlichen Ecke der Burg König Vladislav II. durch den Baumeister Benedikt Ried von Piesting (der für diesen Monarchen schon den Königssaal entworfen hatte) gerade einen großen Gefängnisturm mit 7. Stockwerken und 2 Meter dicken Mauern errichten lassen, dessen erster Insasse und dadurch auch Namensgeber Ritter Dalibor nun wurde. Er blieb dort nicht lange, den schon am 13. März 1498 wurde das Urteil vollstreckt. Nach Aberkennung seiner Adelstitel wurde er enthauptet. Als Mythos lebte er jedoch weiter. In der Welt der Folklore und der Mythen, die spätere Autoren spannen, blieb er der Rächer der Unterdrückten. Vor allem der Geistliche, Historiker und Schriftsteller Jan František Beckovský überarbeitete und bereinigte 1770 im ersten Band seiner Die Botschafterin alter böhmischer Ereignisse (Poselkyně starých příběhův Českých) die alte Chronik von Hájek z Libočan und verstärkte dabei die Botschaft vom guten Rebellen Dalibor.

So richtig viel Romantik brachte aber erst der große Nationalkomponist Bedřich Smetana (bzw. sein Librettist Josef Wenzig) mit seiner Oper Dalibor, die 1868 uraufgeführt wurde. Hier wurde noch eine Liebesgeschichte eingeflochten. Es geht um Milada, der Schwester des getöteten Adam Ploskovský, die sich bei der Gerichtsverhandlung erst Rache wünscht, dann aber sieht, dass Dalibor edel und mutig ist, und ihr Bruder seinen besten Freund heimtückisch ermordet hatte. Sie verliebt sich und will Dalibor befreien. Sie kann als Junge verkleidet in seine Zelle vordringen, wo sie ihm die Geige seines toten Freundes gibt und mit ihm die Flucht plant. Dalibor begeistert fortan die Menschen, die unter dem Zellenfenster warten, mit Gesang (natürlich eine Freiheitsarie!) und schnell erlerntem, aber meisterhaften Geigenspiel. Der Versuch Miladas, ihn zu befreien, scheitert durch Verrat. Sie stirbt und er begeht darob neben ihrem Leichnam Selbstmord.

So richtig hat das wenig mit der überlieferten Geschichte des Dalibor zu tun. Aber ein neues Motiv wurde eingeführt: Die Geige des Dalibor. Auch das ist Humbug, denn erste Vorläufer der Violine, den man überhaupt so nennen kann (Streichinstrumente gab es natürlich schon seit der Antike) entstanden erst einige Jahrzehnte nach der Hinrichtung des echten Dalibor. Das verhinderte aber nicht, dass die Geige fortan zum Hauptrequisit der Dalibor-Legende wurde. Popularisiert wurde sie von dem populären tschechisch-nationalen Schriftsteller und Historiker Alois Jirásek (über ihn berichteten wir bereits hier) 1894 in seinen Alten Böhmischen Sagen (Staré pověsti české). Jirásek verzichtete auf die Liebesgeschichte in der Oper und brachte die Geschichte wieder auf ihren ursprünglichen Kern zurück, dem Nachbarschaftskonflikt um Leibeigene, wobei die historisch fragwürdige sozialrevolutionäre Dimension wieder überbetont wird. Aber sie wird um die Geige ergänzt, die ihm hier ein gutherziger Wärter bringt, und deren Spiel er schnell so beherrscht, dass die Menschen draußen sich immer unter dem Zellenfenster versammeln, um dem betörenden Klang gerührt zu lauschen. Dalibor hat sich ein kleines Geldbeutelchen besorgt, das er an einem Schnürchen aus dem Fenster herablässt, worauf die Bürger im kleine Geldgaben spenden. Die braucht er, denn, wer in einem mittelalterlichen Kerker einigermaßen überleben wollte, musste den Wärtern einen Obolus zahlen, sonst wurde die Fürsorge und Verpflegung auf ein Minimum reduziert. Was das damals bedeutete, kann man sich ausmalen.

Womit wir bei dem dunklen Kerker in dem Turm sind, den der echte Dalibor tatsächlich „einweihte“, wenn auch ohne Geige (die man durch die dicken Mauern sowieso unten nicht gehört hätte). Dem ersten Häftling folgten im Lauf der Geschichte unzählige andere, von denen einige prominent waren. Wer sich an einem der erfolglosen Versuche führend beteiligte, die seit 1526 in Böhmen fest im Sattel sitzenden Herrscher des Haus Habsburg in ihrer Macht zu beschränken oder gar loszuwerden, hatte große Chancen, in den Turm gesteckt zu werden. Das galt sowohl für die Erhebung der Stände von 1547 als vor allem auch dem Großen Ständeaufstand von 1618, der zum Dreissigjährigen Krieg führte. Im Jahre 1718 wurde der Kunstmäzen, Verleger Exzentriker und mutmaßlich erste Freimaurer Prags, Franz Anton Reichsgraf von Sporck, hier inhaftiert. Er hatte bei einem Streit mit einem Anwalt (wohl nicht Ernst gemeinte) Morddrohungen ausgestoßen und bekam eine Geldstrafe auferlegt, die er sich aber zu zahlen weigerte. Er wurde darob wegen Schulden zu drei Monaten im Turm verurteilt. Da er aber nur aus Trotz und aus Geldmangel die Zahlung verweigerte, konnte er sich allerbeste Haftbedingungen erkaufen. Sogar Teile seiner kostbaren Bildersammlung ließ er an den Zellenwänden aufhängen. Und sowieso hatte ihm sein Arzt einen Attest ausgestellt, dass er immer wieder Freigang hatte.

Als diese Posse geschah, war die Zeit der Nutzung des Turms als Kerker fast abgelaufen, 1781 wurde der Turm bei einem Feuer schwer beschädigt. Er wurde zwar repariert und dabei um ein Stockwerk verkleinert, aber diente fortan nur noch als Lager. Aber der Mythos blieb. Egal, welche Variante – von Hajek über Smetana zu Jirásek – man sich zueigen macht, mit einer solchen Geschichte im Gepäck hatte der Dalibor-Turm das Zeug zur Touristenattraktion. Vor allem, weil er eine der großen Burgattraktionen, das Goldene Gässchen (Zlatá ulička; wir berichteten hier), östlich abschloss, kam hier ja auch jeder Besucher vorbei. Ab 1883 wurde er für die Besucher öffentlich zugänglich gemacht. Das währte bis zur 2012 beginnenden Amtszeit des etwas erratischen tschechischen Präsidenten Miloš Zeman, der an den Eingängen der Burg (wo auch des Präsidentenamt ist) Sicherheitskontrollen einführte und etliche beliebte Attraktionen für Besucher schließen ließ, darunter den schönen Park des Hirschgraben (Jelení příkop), übe den wir hier berichteten. Sein Nachfolger Präsident Petr Pavel änderte das Anfang 2023 und seither ist wieder viel Getümmel in den Kerkerzellen.

Drinnen kann man noch die engen Treppen hinuntersteigen und die Düsternis des Ortes erahnen. Einige der Holzböden der Stockwerke sind herausgenommen, sodass es heute alles etwas geräumiger wirkt als zu Dalibors Zeiten. Im Keller kann man noch das schöne gotische Spitzgewölbe erkennen, das aus der Zeit von König Vladislav und seinem Architekten Ried stammt – also jener Zeit, da der Ritter Dalibor hier sein Kerkerdasein (mit oder eher ohne Geige) fristete.

Wie steht es um die didaktische Aufbereitung? Nun ja, mah hat vor allem einige Nachbildungen von altertümlichen, nicht spezifisch aus der Zeit Ritter Dalibors kommenden Folterinstrumenten aufgestellt bzw. -gehängt, beginnend in der hohen rechteckigen Vorhalle vor dem Turm, wo sich ein Hängegalgen (Gibbet) mit Skelett befindet. Das mag einem die Grausamkeit früherer Haftbedingungen vor Augen führen, aber irgendwie sieht es alles ein wenig nach einem kleinem Mittelalter-Disneyland oder Gruselkabinett aus. Aber vielen Touristen dürfte der Grusel wahrscheinlich gefallen. Vielleicht findet man aber trotzdem in nächster Zeit für eine Neugestaltung der Ausstellung. Denn genügend echte Geschichte mit Unterhaltungswert hat der Turm schließlich doch zu bieten. Da benötigt man keine zusammengesammelten Showobjekte.

 

Wirklich gruselig und auch echt ist der Blick in das kleine vergitterte runde Loch im Boden des Untergeschosses (Bild links). Das ist der sogenannte Hungerturm. Wer dazu verurteilt wurde, den ließ man an einem Seil in die kleine fensterlose Zelle hinab, wo er nur mit Wasser und recht wenig Brot versorgt wurde (ihn dort geradewegs verhungern zu lassen, war eher die Ausnahme). Durch Entkräftung, schlechte Ernährung, non-existente Hygiene und völligem Lichtmangel dauerte es meist nicht lange, bis der Gefangene „ganz natürlich“ gestorben war. Der Anblick ist eine Erinnerung und Ermahnung daran, dass sich zumindest in unseren Breitengraden gottlob in Sachen Strafvollzug vieles zum sehr viel Besseren gewendet hat. Schön wäre es, wenn man später einmal in einer verbesserten Ausstellung die Geschichten derer, die hier litten, erfahren könnte.

Wer heute bei einem Besuch die Prager Burg wegen ihrer nicht zu leugnenden Pracht genießen will, sei also daran erinnert, dass die Geschichte auch ihre dunklen Seiten hat. Und die wenigsten wissen, dass ein Kapitel der Geschichte auch die Geschichte der Gefängnisse dort ist. Wie im Mittelalter übrlich befanden sich die Gefängnisse meist unten in den Türmen – in Prag an den Außentürmen. Der Dalibor-Turm war übrigens nicht der einzige Gefängnisturm auf der Burg. Der ganz nahe oben bereits erwähnte Schwarze Turm (Černá věž), ein Bau mit quadratischem Grundriss aus dem 12. Jahrhundert, und der den Dalibor-Turm an Höhe überragt, wurde in Teilen als Gefängnis genutzt. Er ist aber heute nicht zugänglich, weil er das archäologische Archiv der Burg enthält. Weil er eigentlich sehr hell aussieht man man sich über den Namen wundern. Den hat er während des großen Feuers von 1541, das Kleinseite und Teile der Burgstadt verwüstete, bekommen. Da war er für kurze Zeit vom Ruß völlig geschwärzt. Das schwarze Ruß ist zwar lange weg, aber die Bezeichnung blieb. Aber als historischer Gefängnisturm läuft ihm der Dalibor-Turm schon wegen seiner wild-romantischen Geschichte seit jeher den Rang ab. (DD)

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