Rondokubismus mit modernem Kontrapunkt

Industriearchitektur kann originell and ansprechend sein. Und wenn diese Industriearchitektur im Laufe der Zeit einmal kräftig renoviert wird, kann sie sogar noch origineller und ansprechender werden. So geschehen mit der Zátka’schen Sodafabrik (Zátkova sodovkárna) in der Přívozní 1064/2a im Stadteil Holešovice. Dahinter steckt nicht zuletzt auch ein interessantes Stück böhmisch/tschechischer Wirtschaftsgeschichte.

Die beginnt im südböhmischen České Budějovice (Budweis). Die Familie Zátka gehörte dort schon früh zu den Honoratioren der Stadt – Mäzene, Politiker und Unternehmer. Etwa Hýnek Zátka, der es als überzeugter tschechischer Nationalist zum böhmischen Landtagsabgeordneten und sogar zum ausgespochen oppositionellen Mitglied des österreichischen Abgeordnetenhauses (1861-63) gebracht hatte. Gleichzeitig betrieb er erfolgreich einen Handel mit Salz und landwirtschaftlichen Nutzpflanzen. Diesen Sinn für Gemeinwohl und Geschäft vererbte er an seinen Sohn August Zátka, ebenfalls ein langjähriger Landtagsabgeordneter und „nebenbei“ Mitgründer der Böhmische Aktienbrauerei (Český akciový pivovar), aus der eine der heute bekanntesten Brauereien Tschechien, Budvar (Budweiser), hervorging. Dann kam dessen Sohn Ferdinand Zátka, der richtig Nägel mit Köpfen machte. Erst gründete er in Budweis eine Zuckerfabrik (1872), dann expandierte er 1878 nach Prag, wo er im Stadttteil Karlín eine Großbäckerei aufbaute und schließlich ein Jahr als eine Familien-Aktiengesellschaft die Dr. F. Zátka AG Nahrungsmittelfabriken (Dr. F. Zátka Akc. Spol. Továrny Pozivatin), eine der ersten Soda-Getränkefabriken Europas und auf Jahrzehnte die größte in ganz Mitteleuropa. Die neuen Sprudelgtränke waren der Renner. Aber auch andere Lebensmittel wurden von der Firma angeboten, etwa französischer Senf, Sekt oder Kaffeeersatz. Als er 1901 starb (und sein Bruder Vlastimil übernahm) war die Firma ein wahrer Gigant der böhmischen Wirtschaft.

Das blieb auch so in den folgenden Generationen. 1925 stellte man fest, dass die Fabriken in Karlín nicht mehr bedarfdeckend produzieren können. Platz zum Ausbau gab es nicht und so beschloss man, die Sodafabrik nach Holešovice zu verlegen, war großzügig gebaute Straßen und die Hafennähe zusätzliche Vorteile boten. Und so baute der Architekt Oldřich Brabec in den Jahren 1927-1929 zu einem Gesamtpreis von 2.439.136 Kronen dort eine moderne Fabrik. Während des Baus musste die Firma mit einem der größten Absatzzuwächse fertig werden. 1928 war ein so heißer Sommer mit 11 Tagen im Juli, an denen die Temperatur 40 Grad betrug, dass locker 8 Millionen Flaschen verkauft wurden und man Probleme hatte, die geeignete Menge an Transportmitteln zu finden. Eine Lastautoflotte wurde eilig aufgebaut. In dieser Zeit musste man sich auch gegen Fälscher wehren, die falsche Limo in echte alte Zátka-Flaschen füllten. Dafür erfand man das heute noch gebräuchliche Papiersiegel, das über den Korken (mit Registriernummer) geklebt wurde. Nebenbei machte man noch eine Erfindung, nämlich den Mehrweg-Verschluss für Flaschen, der deshalb von den Tschechen immer noch Zátka genannt wird. Die guten Zeiten gingen 1939 zu Ende. Die Nazis enteigneten und „germanisierten“ die gesamte Firma, deren Eigner sowieso politisch als zu tschechisch-national eingestuft wurden. 1945 kriegte die Familie den Besitz zurück, nur um 1948 von den Kommunisten wieder enteignet zu werden.

Die verschiedenen Bestandteile des Unternehmens – etwa die Bäckerei und die Sodafabrik – wurden auf verschiedene staatliche Großunternehmen verteilt. 1989 ging es mit dem Kommunismus gottlob zu Ende. Der Staat behielt die Unternehmen erst einmal, um sie für die Privatisierung zu restrukturieren. Die Erben der Zátkas bekamen sie dann erst verpachtet, dann wurde privatisiert. Inzwischen war wohl die Konkurrenz in Sachen Sprudelgetränke zu groß (vorher hatte man fast ein Monopol inne). Im Jahr 2000 ging die Sodafirma pleite. Auch andere Teile des früheren Konzerns gingen verloren. Immerhin gehört die Firma Bratři Zátkové noch zu den größten Nudel- und Mehlherstellern Tschechiens. Aber die alte Sodafabrik in Holešovice stand leer. Im Jahr 2003 wurde sie von der weltweit operierenden amerikanischen Werbeagetur Ogilvy & Mather gekauft und aufwendig renoviert und umgebaut.

Alleine der neue Außenanstrich wurde dabei zum „Hingucker“. Er „dekonstruiert“ geradezu die Fassadenstruktur des Gebäudes aus den 1920er Jahren. Die hatte Architekt Brabec damals im Stil des Rondokubismus gestaltet. Der Kubismus versuchte in seiner Frühphase vor dem Ersten Weltkrieg, durch die Verwendung geometrischer Formen einen Bruck mit den früheren historisierenden Baustilen zu bewirken. In der Zwischenkriegszeit versuchte man hingegen, die geometrischen Formen des Kubismus zu einer Art freien Nachempfindung traditioneller Baustile zu nutzen. So war es auch bei der Sodafabrik. Der Turm mutet recht mittelalterlich an und die Säulen erinnern vage an klassische antike Vorbilder, ohne sie wirklich zu imitieren. Es handelt sich also um ein typisches Beispiel rondokubistischer Industriearchitektur. Andere Beispiele zeigten wir u.a. hierhier und hier.

Die Architekten des Umbaus von 2003, Zdeněk Jiran, Michal Kohout und Patrik Hocke vom Prager Architekten-Büro Jiran a partner, die das Innere der Sodafabrik an die Bedürfnisse einer modernen erbeagentur anpassten, ließen die Fassade so bemalen, dass sie einen Kontrapunkt zur alten Architekur setzten. Wieder wurden geometrische Formen (in schwarz-rot-weiß) verwendet, aber in einer so unregelmäßigen Art und Weise, dass sie die sachliche und regelmäßige Konzeption der rondokubistischen Architektur mit ihren klassischen Anleihen konterkarieren. Ein interessanter ästhetischer Konflikt wird hier geradezu dramatisch auf der Bühne präsentiert. Keine Frage, dass das den Kreativitätsanspruch einer Werbeagentur unterstreicht. Und, so könnte man hinzufügen, es wird auch dem Andenken an einstige Kreativität und dem Erfindungsreichtum der Firma Zátka und ihrer Sodafabrik gerecht. (DD)

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