Theater – alternativ und kubistisch

Wenn man in Prag ein richtig alternatives Theater kennenlernen möchte, warum nicht im Theater Venuše ve Švehlovce (Venus im Švehlova) in der Slavíkova 1499/22 im sowieso recht alternativen Stadtteil Žižkov? Und man lernt dabei gleich auch noch eine architektonische Rarität kennen.

Schon das Entrée stimmt. Durch einen engen Durchgang muss man – weitgehend unbeschildert – erst einmal seinen Weg in einen Hinterhof finden. Es sieht auf den ersten Blick alles ein wenig so aus, als ob hier vielleicht der eine oder andere Eimer Farbe guttäte, aber nach kurzem Nachdenken kommt man zu dem Schluss, dass das dem alternativen Theater den alternativen Flair rauben würde. Dann zwängt man sich eine enge Kellertreppe hinunter. Alles ist schummerig und dunkel. Meine Frau und ich bemerken, dass wir den Alterdurchschnitt des Publikums markant heben. Nun ja, es ist irgendwie ein Theater von Studenten für Studenten (aber nicht nur), aber auf hohem Niveau.

Auf dem Weg runter hängt über dem Fußende der Treppe eine am Galgen baumelnde Frauengestalt – natürlich keine echte, sondern eines Statue, die möglicherweise die namensgebende Venus darstellen soll oder auch nicht. Dann kommt man in den Vorraum mit Kasse. Eine richtige Garderobe gibt es nicht. Der – erstaunlich gute – Wein in der Bar (eng, nur Stehplätze) wird im Plastikbecher serviert. Nahrungsangebot: Kartoffelchips (allerdings ebenfalls recht gute). wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, stellt man nicht nur fest, dass das Ganze doch eine urtümlich gemütliche Atmosphäre hat, sondern dass man sich in einem echten Kulturdenkmal, ja einer architektonischen Sensation befindet.

Es gibt nämlich kaum andere Beispiele für Theater im Stile des Kubismus, der ja so etwas wie der Nationalstil der Tschechoslowakei nach ihrer Gründung 1918 war und kaum irgendwo so florierte wie in Prag. Und dass dieses architektonische Juwel ein Theater mit leicht studentsicher Ausrichtung beherbergt, hat auch seine historischen Gründe, die eng mit den Gebäude verknüpft sind. Denn der Theatersaal gehört zum sogenannten Švehlova Kolleg (Kolej Švehlova), einem Studentenwohnheim, das in den Jahren 1923 bis1925 nach dem Entwurf von Jan Chládek erbaut wurde.

Das heutige Theater war nach der Eröffnung 1925 zunächst einmal nur als Mehrzwecksaal genutzt worden. 1928 ersann man eine neue Nutzung als studentisches Kino, das Kino Academia, das wohl (mit Ausnahme der Nazizeit) länger in Betrieb war. Nach dem Ende des Kommunismus nutzte man ihn als einen Studentenklub, den man Belmondo Klub nannte, was auf eine gewissen Popularität des berühmten französischen Schauspielers unter den Studenten schließen lässt. Währenddessen verfielen der Saal und das Kellernebengebäude langsam durch Vernachlässigung – eine Entwicklung fortsetzend, die schon unter dem Kommunismus heftig eingesetzt hatte.

Man sinnierte über eine mit Renovierung verbundene Neunutzung und am Ende – im September 2014 – eröffnete man das Ganze als Theater und Kulturzentrum Venuše ve Švehlovce, das sich ganz und gar auf studentisches und alternatives Theater fokussierte. Es gibt zwei hier „heimische“ Theatergruppen, nämlich das experimentelle Ensemble Depresivní děti touží po penězích (Depressive Kinder sehnen sich nach Geld) und seit 2015 die sozialkritische Truppe Lachende Bestien (tatsächlich dieser deutsche Namen!). Aber es gibt auch Auftritte von Gastkünstlern und -gruppen. Denn man sieht sich primär auch als offene Plattform für neue Künstler. Oben im großen Bild sieht man etwas die Inszenierung der modernen Zweipersonen-Oper Beyond the Garden des britischen Komponisten Stephen McNeff, organisiert im Januar 2022 (als Beitrag zu den Prager Opernwochen) durch die aus dem kleinen mährischen Ort Lipník u Hrotovic kommende Konzeptoper Povera. Man sieht hier eben Dinge, die man sonst nicht so sieht.

Zurück zum Theaterbau daselbst! Wie das ganze Gebäude des Studnetenwohnheims (das wir andernorts noch vorstellen werden), ist auch das Nebengebäude mit Theatersaal im Keller ein typisches Beispiel für eine eigentliche nur in Tschechien vorkommende Sonderform des Kubismus. Der eigentliche Kubismus, der in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg seine Blüte hatte, war durch seine Betonung abstrakter Formen so etwas wie eine Absage an jeglichen tradierten Historismus. In der Zeit der Ersten Republik versuchte man ihn (eigentlich stilwidrig) an natioanle Traditionen anzuknüpfen. Das Resultat war der sogenannte Rondokubismus, der die geometrischen Formen des Kubismus zur Darstellung folkloristischer und historischer Anspielungen verwendete (Beispiel hier). Die Säule, die man rechts sieht, ist ein Beispiel aus dem Theater. Sie erinnert an klassisch-antike Vorbilder, ist aber eigentlich eine ganz neue Konstruktion.

Das heutige Theater selbst ist manchmal so avantgardistisch, dass das Publikum mit dem Rücken zur Bühne sitzt, während das Stück an der Rückseite stattfindet (wie bei Beyond the Garden der Fall). Dann sollte man sich umdrehen, um die typisch rondokubistisch gebrochenen Säulen der Bühnenumrahmung zu bewundern. Auch so etwas sieht man selten in Theatern.

Auf der Decke des Theatersaales fallen dann aber wieder sehr strikt kubistische Muster in reinster Geometrik auf. Kreise und Quadrate lösen sich abwechselnd ab. Man sieht auch noch originale Deckenleuchter aus den 1920er Jahren. Was erstaunt, ist die Tatsache, dass zwar hier und da definitiv der Putz und die Farbe ein wenig abbröckeln, aber ansonsten das Innendekor fast vollständig im Original erhalten ist.

Wenn man zu Recht davon reden kann, dass Prag eine sehr vielfältige Theaterszene hat, dann gilt das auch für die Theaterarchitektur. Fast jeder Stil ist in Prager Theatersälen zu finden – vom Barock über Jugendstil bis zum Funktionalismus. Der kubistische Theatersaal des Venuše ve Švehlovce ragt dann doch noch einmal als besonders einzigartig heraus. (DD)

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