Was von der Nordwestbahn geblieben ist – Ahoj aus Prag!

Dieser Torso einer Eisenbrücke ist eines der letzten Relikte eines echten Stücks böhmischer Eisenbahngeschichte auf Prager Boden. Denn nicht viel ist noch zu sehen von diesem Abschnitt des Bahnnetzes der k.k. privilegierten Österreichischen Nordwestbahn (ÖNWB).

Die Nordwestbahn wurde 1868 gegründet und war im wesentlichen aus einer Fusion der schon 1838 gegründeten k.k. priv. Kaiser-Ferdinands-Nordbahn (KFNB) und der 1856 gegründeten k.k. priv. Süd-Norddeutsche Verbindungsbahn (SNDVB) entstanden. Die Strecke, die wir hier vorstellen, gehörte nicht zu den ursprünglichen Stammstrecken, sondern zu dem ab 1873 in Angriff genommenen Ergänzungsnetz B und hier im Besonderen der 1875 eröffneten Streckenabschnitt Lissa an der Elbe – Prag (tsch.: Lysá nad Labem –Praha). Endpunkt in Prag war der im gleichen Jahr eröffnete Bahnhof Prag-Těšnov am Rande der Neustadt. Der galt seinerzeit als der prachtvollste und schönste Bahnhof Prags. Es handelte sich um einen Kopfbahnhof, der damals noch Prag Nordwestbahnhof (Praha severozápadní nádraží) hieß. Der Bau im Stil der Neorenaissance war das Werk des Architekten Carl Schlimp, der als Spezialist für Bahnhofsgebäude (z. B. der Bahnhof Nagykanizsa in Ungarn) bekannt wurde, und sogar eine Zeit lang dem Vorstand der Nordwestbahn angehörte.

Wer in Prag heute nach diesem Prachtgebäude sucht, tut dies vergebens. Im Jahre 1972 – die Nordwestbahn gab es schon lange nicht mehr – wurde zuerst der Personenverkehr, dann 1984 auch der Güterverkehr eingestellt. Und so wurde 1985 der alte Bahnhof komplett, und ohne Spuren zu hinterlassen, abgerissen. Dort, wo er sich befand, befindet sich eine recht unansehnliche und von einem Brückenzubringer aus Beton begrenzte Grünanlage, die immerhin zur Erinnerung Těšnov Park heißt. Viele Obdachlose halten sich hier auf. Es ist vermüllt und voll mit Sprayereien. Vom Glanz des einstmals schönsten Bahnhofs der Stadt ist nichts mehr geblieben. Immerhin scheinen seit 2022 die Stadtplaner Pläne zur Revitalisierung zu entwickeln – aber natürlich ohne Bahnhof. Dass in den barbarischen Zeiten des Kommunismus Hand an ein verkehrshistorischen Kulturdenkmal gelegt wurde, erstaunt natürlich nicht.

Hingegen unerwartet kam dann doch das Schicksal des ersten Bahnhof der Nordwestbahn auf heutigem Prager Boden. Damals lag der heutige Stadttteil (seit 1922) Vysočany noch außerhalb Prag, war aber als industriell geprägter Vorort schon sehr weitgehend in das Prager Stadtleben integriert. Der Bahnhof Bahnhof Praha-Vysočany wurde 1868 für die k.k. privilegierte Turnau-Kralup-Prager Eisenbahn angelegt, die schon 1870 in die Nordwestbahn eingegliedert wurde. Mit dem Ende der Bahnstrecke nach Těšnov 1985 kam aber nicht das Ende des Bahnhofs, der nebenbei gut mit dem wichtigeren Hauptbahnhof (Hlavní nádraží) verbunden war und weiterhin eifrig in Betrieb war – auch wenn es zu diesem Zeitpunkt die Nordwestbahn sowieso schon längst nicht mehr gab. Denn die wurde schon 1909 durch die k. k. Staatsbahnen verstaatlicht, d.h. den Eignern für 368 Millionen Kronen abgekauft. Die Staatsbahnen wurden 1884 gegründet, um eine Konkurswelle unter den vielen Privatbahnfirmen abzufangen. Das Ganze ging dann 1918 in den Besitz der Tschechoslowakischen Staatsbahnen (Československé státní dráhy) über.

Aber immerhin stand noch lange das kleine alte (Neorenaissance-) Bahnhofsgebäude von damals – als eine hübsche Erinnerung an die Nordwestbahn. Inzwischen sind die Bauarbeiten für ein Modernisierungsprogramm des Bahnhofs angelaufen, das zwischen 2020-2024 realisiert werden soll. Was da jetzt kommen mag, ist vielleicht schick und modern (zugegebenermaßen: Der Bahnhof war vorher arg heruntergekommen), aber ihm fiel eben auch das alte Gebäude inzwischen komplett zum Opfer. Im April 2021 erfolgte der Abriss. Offensichtlich gewann der Moderniserungswille Oberhand über den Denkmalschutz. Schade ist vor allem: An den Wänden des alten Gebäudes befanden sich noch gemalte Hinweistafeln der alten Nordwestbahn in deutscher und tschechischer Sprache, die man nicht lange zuvor sogar noch sorgfältig restauriert hatte (die sahen so aus). Man wird schon ein wenig wehmütig über den Verlust.

Mit der Einstellung des Güterverkehrs zwischen den Bahnhöfen Vysočany und Těšnov im Jahre 1984 war die Gleisstrecke überflüssig geworden. Die wurde schnell überall abgetragen, um zum Teil Platz für große Straßenverkehrsprojekte zu gewinnen. Nur der Torso der alten Eisenbahnbrücke über den kleinen Fluss Rokytka in der Nähe des alten Landgutes Kolčavka in (heute Prag 9) blieb. Am südlichen Brückenteil kann man noch den recht steilen Bahndamm dort ersteigen, wo man noch die Schwellen der Gleise erkennen kann, die langsam, aber sicher verrotten und überwuchern. Weil sich das Ganze in der Nähe eines alten Landgutes befindet, ist hier noch eine Grünanlage. Nur wenige hundert Meter weiter endet das Ganze in einem Neubaugebiet, für das der Bahndamm vollständig abgetragen wurde. Immerhin: Man kann hier noch einen echten Streckenabschnitt der Nordwestbahn in Prag bewundern! Nach dem Abriss der alten der Bahnhofsgebäude in Těšnov (1985) und Vysočany (2021) ist dieser Bahndamm mit Brückentorso eines von zwei Relikten der Nordwestbahn in Prag, die noch existieren.

Das zweite von ihnen wird heute wohl nur von den besonders geschichtsbewussten Eisenbahn-Fans als ein Restbestand der damaligen Bahn erkannt. Denn wer damals von Vysočany über die Brücke fuhr, um nach Těšnov zu kommen, passierte dazwischen noch einen kleinen Bahnhof. Denn es gab auf diesem Abschnitt noch den kleinen Unteren Bahnhof (Libeň dolní nádraží) im Stadtteil Lieben (Libeň). Der wurde 1873 eröffnet. Dessen wesentlicher Zweck war vor allem, die 1850 gegründete, aber schon lange nicht mehr existierenden Prager Maschinenbau Aktiengesellschaft (Pražská akciová strojírna) mit dem Schienennetz zu verbinden. Die Fabrikanlage mit Bahnanschluss wurde im Volksmund nach ihrem Gründer, dem britischen Industriellen Joseph John Ruston, benannt. Deshalb nennt man das alte Bahnhofsgebäude heute noch Rustonka. Dieses ehemalige Nebengebäude des Bahnhofs liegt in der Nähe der Metrostation Palmovka mitten in einem alten verfallenen Industriegebiet, das derzeit abgerissen und neugestaltet wird. Anscheinend will man dieses Gebäude dabei aber erhalten, was eine gute Nachricht ist. Die Nordwestenbahn ist ein Teil jener Geschichte, die vom Aufstieg Prags als Wirtschaftsmetropole handelt – und als solche sollte man ihr Andenken hochhalten.

Article by Detmar Doering

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