Das ultimative Opfer: Mehr als Fackel Nr. 2

Heute vor 55 Jahren, am Dienstag, dem 25. Februar 1969, um 13.30 Uhr stürzte der 18jährige Student Jan Zajíc lichterloh brennend aus dem Nebentor des Hauses Václavské náměstí (Wenzelsplatz) 821/37-39. Etwas über einen Monat zuvor hatte sich der Student Jan Palach (frühere Beiträge u.a. hier und hier) auf dem Wenzelsplatz vor dem Nationalmuseum selbst verbrannt – aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Paktes und gegen die Apathie, mit der der größte Teil der Bevölkerung sich dem Unrecht fügte.

Zajíc wollte, dass das weltweite Aufsehen, das Palachs Selbstverbrennung am 16. Januar 1969 erregt hatte, unvergessen blieb und die Bevölkerung weiterhin aufgerüttelt werden sollte. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich auf derselben Stelle verbrennen, an der auch Palach dies getan hatte – zwischen Nationalmuseum und dem großen Wenzelsdenkmal. Im Museum wollte er, in einer Toilette versteckt, die Selbstverbrennung vorbereiten. Dort war aber an diesem Tag unerwartet die geeignete Toilette geschlossen gewesen. Und so zog er sich auf den Innenhof des 1906 im historistischen Stil erbauten Gebäudes am Wenzelsplatz 37/39 zurück, der ein wenig unübersichtlich war und damit für die Vorbereitung recht geeignet zu sein schien.

Palach war zuvor den Flammen nicht sofort erlegen gewesen, sondern erst drei Tage später nach langer und schmerzensreicher Agonie in einem nahegelegenen Krankenhaus gestorben. Das wollte Zajíc bei seiner Selbstverbrennung vermeiden. Er hatte sich besonders viel Benzinreiniger angeschafft, mit dem er sich übergießen wollte, damit der Flammentod effektiver eintrat. Außerdem hatte er sich Gift besorgt (ein stark säurehaltiges Reinigungsmittel), das er im Moment des Anzündens schlucken wollte – ebenfalls, um den Tod zu beschleunigen und um ihm längeren Schmerz zu ersparen. Die Wucht der Flammen war wegen der Benzinmenge (5 kleine Kanister) so groß, dass Zajíc die Selbstvergiftung nicht mehr gelang. Sein Plan, brennend den Wenzelsplatz zu der (recht entfernten) Stelle hinzulaufen, wo Palach sich verbrannt hatte, scheiterte. In Pein torkelte er nur noch wenige Schritte in die falsche Richtung vom Nebenausgang zum nahen Haupteingang, wo er nach Sekunden zusammenbrach. Passanten versuchten noch, den brennenden Körper mit einem Mantel zu löschen, aber zu diesem Zeitpunkt war Zajíc wohl schon tot. Die meisten Passanten auf dem Wenzelsplatz dürften das Ganze nicht einmal mitbekommen haben.

Dabei hatte sich Zajíc sorgfältig und sogar recht merklich vorbereitet. Mit dem 25. Februar hatte er sich bwusst ein symbolträchtiges Datum ausgesucht, nämlich den 21. Jahrestag der Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei. Sehr viele seiner Kommilitonen wussten von ihm vorher, dass er seine Tat ausführen wollte. Drei Tage zuvor war er zusammen mit drei Freunden per Zug von seinem Studienort Šumperk nach Prag gereist, die von seinen Plänen wussten, aber (wie etliche andere Mitwisser) nicht versuchten, ihn davon abzubringen. Die Staatssicherheit (StB) hatte wohl auch Wind davon bekommen, war Zajíc doch als Aktivist gegen die Besetzung und Teilnehmer der Demonstationen nach dem Tod von Jan Palach bekannt. Sie wusste aber nicht genügend Details, um das Ganze noch verhindern zu können. Kurz vor der Tat schrieb er noch einen Brief an seine Mutter und Geschwister: “ Ich tue es nicht deswegen, weil ich lebensmüde bin. Ich tue es deswegen, weil ich das Leben viel zu hoch schätze… Ich kenne den Preis des Lebens. Ich weiß, dass es das Teuerste ist. Ich verlange viel, also muss ich auch viel geben. Verfallt nicht in Trauer nach meiner Tat… Akzeptiert niemals Ungerechtigkeit, sei es in irgendeiner Form… Es tut mir leid, dass ich niemals euch und das sehen werde, was ich so liebte. Bitte verzeiht mir, dass ich so hart ins Gericht mit Euch gehe. Und lasst sie aus mir keinen Verrückten machen.“

Zajíc wollte ja ein öffentliches Signal setzen, das möglichst viele Menschen aufrüttelte. Das war nicht leicht zu bewerkstelligen. Er war schließlich nicht der erste, sondern – nach Palach – der zweite Fall einer Selbstverbrennung auf dem Wenzelsplatz, was notwendig für eine geringere mediale Verbreitung sorgen musste, weil es einen geringeren Neuigkeitswert haben würde. Die Behörden hatte recht zynisch Palach den Aktennamen „Fackel“ gegeben und Zajíc sollte dagegen immer „nur“ die „Fackel Nr.2“ bleiben, was ihm auch von vornherein klar war. In seinem nach der Tat verbreiteten offenen Brief an die „Bürger der Tschechoslowakischen Republik“ schrieb er auch. „Weil unser Leben trotz der Tat von Jan Palach wieder in die alten Bahnen zurückkehrt, habe ich beschlossen, euer Bewusstsein als Fackel Nr. 2 zu schärfen. Ich mache das nicht, um betrauert zu werden oder berühmt zu werden… Denken Sie daran: „Wenn das Wasser über dem Kopf einer Person steht, spielt es keine Rolle, wie viel.“ … Lass meine Fackel leuchten auf dem Weg zu einer freien und glücklichen Tschechoslowakei… Nur so werde ich weiterleben.“

Tatsächlich war Zajíc bei genauer Betrachtung nicht einmal der zweite Mensch, der sich in der Tschechoslowakei aus Protest selbst verbrannte. Schon einen Tag nach Palachs Tod verbrannte sich der 25jährige Arbeiter Josef Hlavatý in Pilsen. Bis Ende Januar 1969 hatten insgesamt 10 Personen derartiges versucht, aber außer Palach und Hlavatý überlebten alle. Bis zum Sommer gab es fast 30 solcher Versuche im Lande, von denen u.a. die Selbstverbrennung des Mitarbeiter einer Autofirma Evžen Plocek im mährischen Jihlava tödlich endete. Der allererste Protest gegen die Okkupation in Form einer Selbstverbrennung fand gar außerhalb der Tschechoslowakei statt. Nur wenige Tage nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen (20. August 1968), am 8. September 1969 (also lange vor Palach) verbrannte sich der Pole Ryszard Siwiec in einem Warschauer Stadion (wir berichteten hier). Der Fall gelangte allerdings damals nicht in die Medien, weil die polnische Polizei die Sache zunächst erfolgreich vertuschen konnte. Selbstverbrennungen als politische Protestform galten in den 1960er als eine der wirksamsten Methoden , auf Unrecht und Tyrannei aufmerksam zu machen. Zyniker würden geradezu von einem „Trend“ sprechen. Es begann im Juni 1963, als sich in Vietnam der buddhistische Mönch Thích Quang Duc aus Protest gegen das diktatorische Regime Diệm und dessen Repressalien gegen die buddhistische Bevölkerungsmehrheit auf einem öffentlichen Platz in Saigon selbst verbrannte. Die Bilder des US-Photographen und Journalisten Malcolm W. Brown, die den Mönchen ruhig sitzend in einem Flammenmeer zeigten, gingen um die Welt und trugen am Ende zum Sturz des Regimes bei. US-Präsident John F. Kennedy bemerkte kurz darauf: „Kein Nachrichtenbild in der Geschichte hat weltweit so viele Emotionen ausgelöst wie dieses.“ Diese Wirksamkeit führte zu einer Flut von Nachahmern. Zwischen dem Tod des Mönches und 1970 soll es weltweit 101 Selbstverbrennungen gegeben haben, was rund 17 mal mehr war als im ganzen Zeitraum von 1919 bis 1962. Derartige Selbstaufopferungen erwiesen sich als eine spektakuläre Art und Weise, öffentlichkeitswirksam Unrechtsregime bloßzustellen, die meist keinen eigenen Zugang zu den meist strikt kontrollierten offiziellen Medien erlaubten.

Von den Selbstverbrennungen, die dem Beispiel Thich Quang Ducs folgten, war das von Palach wohl mit Abstand die weltweit medial wirksamste. Zajíc war wohl klar, dass seine Tat naturgemäß weniger Aufmerksamkeit erregen könnte. Aber er bereitete das Ganze so vor, dass rückblickend gesagt werden kann, dass er den Eindruck, den Palachs Selbsttötung gemacht hatte, noch einmal wirkungsvoll verstärkte, und dass man seiner heute immer noch gedenkt, während die meisten anderen Märtyrer, die sich in Protest gegen die Okkupation der Tschechoslowakei selbst opferten, schnell vergessen wurden. Obwohl die Verbrennung selbst fast unbemerkt blieb, weil Zajíc nur wenige Schritte nach draußen schaffte, hatte die Tatsache, dass viele Freunde und Mitstreiter davon wussten und zur Verbreitung der Nachricht und auch des Appells an die „Bürger der Tschechoslowakischen Republik“ in Dissidentenkreisen und auch in den Medien (westlich oder im Untergrund) verbreitet. Zur Strategie gehörte es auch, das Regime und den StB in Furcht vor derartigen Aktionen zu halten. Er führte eine Liste (fiktiver) Mitstreiter mit sich, die bereit gewesen sein sollen, eine Serien-Selbstverbrennung durchzuführen. Tatsächlich versuchte er auch Freunde und Kommilitonen zu überzeugen, ebenfalls den freiwilligen Flammentod zu erleiden. Eine Freundin Zajícs, Eva Vavrečková, war sogar bereit dazu, sich am symbolträchtigen Internationalen Frauentag (8. März) ebenfalls zu verbrennen, konnte aber vor der Tat von der Polizei abgefangen werden, wonach Familie und Psychater ihr das Vorhaben wieder ausredeten (sie wanderte in den 1980er Jahren nach Kanada aus). Bei Palach war die Beerdigung in Prag das eigentliche Protestfanal, bei dem zehntausende Menschen ihre Empörung kundtaten. Zajíc, der ja ebenfalls die Menschen mobilisieren wollte, hatte planvoll avisiert, dass auch er in Prag begraben werden sollte, damit sich eine große Demonstration dort versammeln konnte. Die Behörden wollten genau das natürlich verhindern und untersagten eine Beerdigung in Prag. Stattdessen fand Zajíc sein Grab im abgelegenen mährischen Vitkov, seinem Geburtort. Dort, so meinte man, werde die Beerdigung diskret und kaum bemerkt stattfinden. Die Behörden irrten sich. Rund 8000 Menschen – viele davon von weither angereist – nahmen am 2. März an der Beerdigung teil, die dadurch zu einer überraschend großen und weithin wahrgenommenen Manifestation des Protestes wurde. Als „Fackel Nr. 2“ zeigte er auf, wie tief die Ablehung der Okkupation unter jungen Menschen in der Tschechoslowakei saß. Veranschaulicht wurde das auch durch einen öffentlichen Hungerstreik auf dem Aufgangsrampe des Nationalmuseums unmittelbar nach der Selbstverbrennung von Studenten inszeniert wurde, aber auch durch die kleine Demonstration vor dem Haus 37/39, bei der gemeinsam Lieder des Protestsängers Karel Kryl gesungen wurden.

Als mit der Samtenen Revolution von 1989, die Zajíc wohl als Erfüllung seiner Träume erachtet hätte, die kommunistische Herrschaft beendete, war die Erinnerung an seine Tat jedenfalls nicht erloschen. Straßen und Plätze wurden nach ihm benannt, sein Grab in Vitkov unter Denkmalschutz gestellt. Schon im Oktober 1991 verlieh der damalige Staatspräsident Václav Havel an Jan Zajíc postum den Tomáš-Garrigue-Masaryk-Orden erster Klasse – die höchste staatliche Auszeichnung des Landes. Allerdings tat er das gleichzeitig mit einer Verleihung an Jan Palach. Man erinnerte sich Zajícs, aber doch eben nur als „Fackel Nr. 2“. Im selben Jahr kam immerhin die TV-Filmbiographie Jan des mazedonischen Regisseurs Ivo Trajkov mit dem Schauspieler Jakub Wehrenberg als Zajíc heraus, die Zajíc erstmals eigenständig und ausführlicher würdigte. Aber schon die 2012 erschienene, von Filmstudenten gedrehte Dokumentation Jan Zajíc – pochodeń č. 2 (Jan Zajíc – Fackel Nr. 2) der Jungregisseurin Klara Řezníčková wurde Zajíc als Würdigung zwar gerecht, machte aber im Titel wiederum deutlich, das der Student eben nur der Zweite nach Palach war.

Das schlug sich zunächst auch in der Denkmalskultur nieder. 1994 stellte die Konföderation Politischer Gefangener (Spolek Političtí vězni) auf dem Wenzelsplatz etwas unterhalb des Wenzelsdenkmals eine „doppelte“ Gedenktafel auf – ungefähr in der Mitte des Weges, den Zajíc hatte brennend einschlagen wollen (siehe Bild oberhalb links). Bezeichnenderweise sieht man darauf zuerst links das Portrait Palachs und dann erst rechts das von Zajíc. Angesichts der historischen Bedeutung und der Nachwirkung der Palachschen Selbstverbrennung war das sicher auch korrekt. Aber im Laufe der Zeit fand man dann doch, dass Zajíc eine eigene und eigenständige Würdigung und somit ein eigenes Denkmal verdient hätte. Die Stadtregierung von Prag 1 beschloss, für ihn zum 50. Jahrestag der Selbstverbrennung am 25. Februar 2019 auf dem Wenzelsplatz am Eingang des Hauses 37/39, wo er sich selbst angezündet hatte, ein Denkmal exklusiv zu Zajícs Gedenken zu errichten. Nach einem an Studenten der Kunsthochschulen gerichteten Wettbewerb wurde das sehr ergreifende Denkmal zum Jahrestag von Vertreter des Stadtbezirks und der Hauptstadt eingeweiht.

Der künstlerische Kern des kleinen Denkmals, das die zu Tausenden hier vorbeiströmenden Touristen hier wahrscheinlich meist übersehen, ist eine Tafel (siehe großes Bild oben) mit einem Zitats Zajícs: „Zemřel jen ten, kdo žil pro sebe“ (Nur der starb, der für sich selbst lebte). Unter dem Schriftzug sieht man die Skulptur einer Hand, die eine Rose trägt. Die Handsymbolik erinnert ein wenig an die Gedenktafel für den Beginn der Samtenen Revolution am 17. November 1989 (Pamětní deska 17. listopadu) in der Nationalallee (Národní třída), über das wir bereits hier berichteten. Das Ganze wird vertikal umflossen von einem an einen Blitzableiter erinnernden Drahtkabel, an dem unten eine Tafel angebracht (Bild links) ist, dass an eines der selbstgemachten Protestschilder erinnert, die die demonstrierenden von 1968/69. Das Denkmal bekommt dadurch eine beeinduckende und intensive Authenzität. Jan Zajíc hat somit die Ehrung, die ihm und dem ultimativen Opfer, das er erbrachte, gerecht wird, erhalten – mehr als nur „Fackel Nr. 2“ gewesen zu sein. (DD)

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