Mordende Titanen

Autsch! Und dann auch noch in den Rücken! Nähert man sich von Westen über den Burgplatz (Hradčanské náměstí) der Prager Burg, so wird man als erstes Szenen von ausgesprochener Blutrünstigkeit gewahr – wenngleich auch nur in Stein gemeißelt.

Wir befinden uns jetzt vor dem Ersten Hof der Prager Burg, dort wo immer der Wachwechsel stattfindet (siehe hier). Warum hat man nur an dieser Stelle, die doch sozusagen das Willkommensportal der Burg ist, die Antike von ihrer brutalen Seite gezeigt? Vielleicht hat das etwas mit der Geschichte des Vorplatzes zu tun. Die Burg gibt es ja schon seit dem 9. Jahrhundert und zunächst war sie auch tatsächlich eine Burg im Sinne einer befestigten Wehranlage. Das von Westen aus diese Burg auf ebener Fläche leicht für feindliche Armeen erreichbar war, während alle anderen Seiten durch steile Abhänge natürlich geschützt waren, hatte man hier, wo der Vorhof beginnt, einen tiefen Graben mit Wall zum Schutz errichtet.

Als das große Feuer von 1541 die Umgebung in Burgstadt und Kleinseite heimsuchte, war dies das Signal für eine grundlegende Veränderung. Früher lebte hier nur das arme Gesinde der Burg. Der Neuaufbau brachte so etwas wie eine enorme Gentrifizierung mit sich. Der hohe Adel suchte die Nähe des königlichen Hofs. Statt armseliger Hütten entstanden hier neue Paläste, als erstes1545 das Schwarzenberg Palais, dem andere folgten. Und auch die Burg veränderte sich. Von der Wehranlage verwandelte sie sich langsam zum großen Schloß- oder Palastkomplex – eine Tendenz, die nach dem Dreissigjährigen Krieg an Fahrt gewann und in der Zeit von Königin Maria Theresia in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen spätbarocken Höhepunkt erreichte. Mittelalterliche Wallgräben und Mauern hatten im Zeitalter der Artillerie ausgedient und verschwanden; nun waren absolutistischer Prunk und höfische Kultur angesagt.

Nun ja, ein wenig Schutz muss trotzdem sein. Vielleicht war es ja deshalb, dass man im leichtest zugänglichen Eingangsbereich wenigstens ein künstlerisch gestaltetes Abschreckungsszenario hinstellte. Oder auch nicht… Wahrscheinlicher ist, dass die beiden in Maria Theresias Zeiten 1761/62 von dem bekannten Barockbildhauer Ignaz Franz Platzer (wir berichteten u.a. hier) gestalteten Skulpturengruppen Kampf der Titanen einer damals recht generellen Vorliebe für klassische Heldendramen entsprachen, und dass sie von einem Vorbild inspiriert, dass der Herrscherin familär vorgekommen sein muss. In Wien findet sich eine ähnliche Gruppe von Statuen am Tor zum Reichkanzleitrakt der Hofburg. Sie sind das Werk des italienischen Bildhauers Lorenzo Mattielli, der sie 1728/29 anfertigte.

In der Tat ist die Komposition der Gruppen sehr ähnlich. Allerdings kämpfen in Wien nicht anthropomorphe Gestalten gegeneinander, sondern Mensch gegen Tier. Sie stellen jeweils den Kampf des Herkules gegen den kretischen Stier und gegen den nemeischen Löwen. gegen den Löwen hält Herkules seine Keule bereits, die bekanntlich sein ikonographisches Markenzeichen ist. In einer der Platzerschen Gruppen in Prag kommt auch eine Keule zum Einsatz (Bild rechts), in der anderen (großes Bild oben) allerdings ein langes Messer. Trotz der sonst für ihn charakteristischen Keule, befindet sich auf den Prager Sockeln kein einziger Herkules. Vielmehr handelt es sich um zwei Darstellungen vom Kampf der Titanen. Das ist der in der griechischen Mythologie überlieferte Kampf zwischen den alten Göttern, den Titanen, mit der neuen Göttergeneration, die unter ihrem Obergott Zeus am Ende siegreich bleibt.

Das, was wir da heute auf den Sockeln sehen, die das schöne geschmiedete und teils vergoldete Torgitter (Bild oberhalb links) rahmen, sind allerdings nicht mehr Platzers Originale. Die waren ja stets Wind und Wetter ausgesetzt und waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts erodiert und unansehnlich geworden. 1902 wurden sie daher durch sehr stark an die Originale angelehnte Kopien des Bildhauers Čeněk (Vincenc) Vosmík (wir erwähnten ihn u.a. bereits hierhier und hier), der den bekeulten Titan entwarf, und seines Kollegen Antonín Procházka (hier und hier), der den mit dem Dolch gestaltete, ersetzt. Deshalb sind auch oben auf den Sockeln jeweils die Namen der modernen Bildhauer (Bild links: Vosmík) und nicht der Platzers eingemeißelt.

Wie bei der skulpturalen Ausstattung hochherrschaftlicher Repräsentanzgebäude im Barock üblich, dürfte das martialisch-machtvolle Aussehen der beiden Doppelstatuen auch etwas mit absolutistischer Machtdemonstration zu tun gehabt haben. Dafür spricht im Fall des Eingangstors und Begrenzungsgitters des Ersten Hofes, dass sich rechts und links neben den Titanen steinerne Skulpturen symbolischer Allegorien der Habsburger Herrschaft befinden. Links von den Titanen ist dies ein von Putten umgebener Adler (allerdings nicht der typische Doppeladler, sondern ein einköpfiger Reichsadler), der die Kaiserkrone auf dem Haupt trägt. Maria Theresia, in der Zeit die Skulptur errichtet wurde, war zwar Erzherzogin Österreichs und sogar Böhmens Königin, aber immerhin war ihr Mann Franz I. der Kaiser. Dass man umgangssprachlich oft immer noch von einer Kaiserin Maria Theresia redet, hat etwas damit zu tun, dass sie de facto (mit ihrer Habsburger Hausmacht) die Richtlinien kaiserlicher Politik bestimmte. Da hätte die formal korrekt böhmische Wenzelkrone möglicherweise ein wenig tiefstaplerisch gewirkt.

Allerdings handelt es sich bei dem rechts von den Titanen befindlichen gekrönten Löwen, der von Putten (ein unerlässliches Assecoire der Barockkunst) geritten wird, dann doch um den böhmischen Löwen, wie man es eigentlich am Eingang des böhmischen Königssitzes auch erwarten würde. Jedoch ist die für den böhmischen Löwentyp charakteristische Zweischwänzigkeit nur an der Schwanzspitze leicht angedeutet und außerdem trägt er (nebst Zepter) wieder die gleiche Kaiserkrone, die auch der Adler trägt. Wie dem auch sei, wer heute den nicht-monarchischen und demokratisch gewählten Präsidenten (unter denen sich bisher kein Habsburger befand) in seinem Amtssitz in der Burg besuchen will, muss erst einmal zur Einstimmung ein gerüttelt Maß an monarchischem Pomp am Eingangshof passieren. Ganz an den beiden Seiten gibt es noch auf Sockeln platzierte und rein dekorative Putten mit einer vase zu sehen.

Bevor man die Titanen mit ihrer wuchtigen Brutalität hier aufstellte, wollte man Besucher eher mit einem großen Triumphbogen nach römischer Art (mit barocken Ergänzungen) beeindrucken. Der wurde im Jahr 1614 an der Rückseite des Ersten Hofes errichtet, und zwar wahrscheinlich nach Plänen des italienischen Architekten Giovanni Maria Philippi, der schon 1604 die Orangerie der Königlichen Burggärten entworfen hatte. Da der Triumphbogen selbstredend der Verherrlichung des amtierenden Herrschers – damals Kaiser Matthias II., ein Habsburger, der üblicherweise zugleich auch böhmischer König war – diente, wurde er natürlich auch so benannt: Matthiastor (Matyášova brána).

 

Von kleinen Obelisken eingerahmt befindet sich oberhalb des Durchgangs eine Ädikula mit einer lateinischen Inschrift, die Matthias als gewählten Römischen Kaiser (d.h. des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation) und König von Ungarn und Böhmen bezeichnet, die er zu dieser Zeit in Personalunion regierte. Dazu kommt das Datum der Errichtung des Bogens, eben das Jahr 1614. Die in Architektur gegossene Herrschaftsdemonstration war vielleicht notwendig, denn Matthias hatte lange mit seinem Bruder Rudolf II. um die böhmische Krone gerungen, aber erst nach recht gewalttätigen Auseindersetzungen die Unterstützung seitens der böhmischen Stände bekommen, was ihm 1611 den Thron sicherte. Es bedurfte einer gewissen Imagekampagne, um sich wieder gut in der böhmischen Politik zu platzieren. Dazu diente wohl auch der Triumphbogen.

Heute handelt es sich allerdings nicht mehr um einen Triumphbogen im eigentlich Sinne (der müsste freistehend sein). Denn mit der Aufstellung der Titanen weiter vorne ging auch die Vergrößerung der „Palastkapazität“ der Burg einher. In den Jahren 1753 bis 1775 wurde der Erste Hof auf der Rückseite durch ein weiteres, hufeisenförmiges und dreistöckiges Gebäude abgeschlossen, das nach den Plänen des österreichisch-italienischen Architekten Nikolaus Franz Leonhard von Pacassi erbaut wurde. Es wurde somit zu einem Durchgang zum Zweiten Hof der Burg. Aber man muss zugeben: Der Eingang mit den mordenden Titanen, das Tor und dessen neuere „Einfassung“ in den Palast verleihen dem Ersten Hof etwas ganz besonders Majestätisches, das seine Wirkung bei den Besuchern kaum je verfehlt. (DD)

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