Transkarpatische Tragödie

Derjenige, dessen Name oben auf dem Grabstein steht, liegt gar nicht in diesem Grab. Es ist das „Scheingrab“ (auch Kenotaph genannt) von Awgustyn Woloschyn (in Tschechisch Augustin Vološin geschrieben) auf dem Olšany-Friedhof in Žižkov (Olšanské hřbitovy) – dem Prager Hauptfriedhof. Wo er wirklich begraben ist, wissen wir nicht. Das Grab ohne ihn wirft ein Licht auf die Wirrnisse und Tragödien in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das Grab weist auf ein in Westeuropa wenig bekanntes Kapitel der Geschichte hin, nämlich der von Transkarpatien. Stellen wir uns eine fiktive Person vor, die 1905 geboren wurde und bis 1995 nur in seiner transkarpatischen Ortschaft lebte und sie nie verließ. Sie wechselte ihre Staatszugehörigkeit und das Staatsregime in einer Frequenz, die vielen Menschen heute kaum vorstellbar erscheinen mag. Sie wurde als Bürger der ungarischen Reichshälfte der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie geboren. Als 1918 der Erste Weltkrieg endet, wurde sie Bürger Ungarns, das 1918 eine demokratische Republik unter Ministerpräsident Mihály Károlyi wurde, die sich im März 1919 in eine kommunistische Räterepublik unter Béla Kun (die rumänische Truppen im August 1919 beendete) wandelte. Durch den Vertrag von Trianon wurde Transkarpatien im Juni 1920 ein Teil der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Nach der endgültigen Zerschlagung der Tschechoslowakei riefen die Transkarpatier im März 1939 eine eigene Republik aus, die nach nur einem Tag von Ungarn zerschlagen wurde, das das Land wieder besetzte. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fiel das Gebiet wieder an die Tschechoslowakei, aber schon Januar 1946 übergab man es an die Sowjetunion. Im August 1991 wurde Transkarpatien Teil der neu unabhängig gewordenen Ukraine. Unsere fiktive Person hat in der Tat in Sachen Staatszugehörigkeit viel durchgemacht.

Awgustyn Woloschyn gehörte zu den wichtigsten politischen Persönlichkeiten jener Zeit, da Transkarpatien zur Tschechoslowakei gehörte. Eigentlich war er Priester der Griechisch-Orthodoxen Kirche. Dabei handelt es um eine seit dem späten 16. Jahrhundert bestehende ukrainische Kirche, die den orthodoxen Ritus praktizierte, aber sich der katholischen Kirche angeschlossen hatte, um sich machtpolitisch von der russischen Orthodoxie zu lösen. Das ließ bereits Rückschlüsse auf die politische Orientierung zu. Rund 60% der transkarpatischen Bevölkerung waren Ruthenen, wie man die Ukrainer oder ihnen sprachlich nahestehende Gruppen im Habsburgerreich nannte. Die Griechisch-Orthodoxe Kirche stand programmatisch für einen ukrainischen Nationalismus (es ist daher kein Wunder, dass die russischen Besetzer, die 2022 die Ukraine überfielen, die Griechisch-Orthodoxen mit besonders heftigen Repressalien überzogen). Und so war es auch bei Woloschyn. Der war von 1903 bis 1914 auch Herausgeber der einzigen ukrainisch-sprachigen Zeitschrift in Ungarn mit dem Titel Nauka. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieg wurde er Mitglied des Subkarpatischen Nationalrats, der 1919 die Tschechoslowakei um den Beitritt zu ihrem Staatsgebiet bat. Das war ein pragmatischer Entschluss, denn ein von ukrainischen Transkarpatiern möglicherweise erwünschter Anschluss an die entstehende Ukraine war unmöglich geworden als die unmittelbar benachbarte Westukraine im Sommer 1919 von Polen erobert wurde. Unter diesen Umständen schien die Option für die Tschechoslowakei die stabilste und demokratischste Lösung zu sein, die zudem von den Westalliierten (insbesondere Frankreich) zwecks Eindämmung Ungarns gewünscht wurde. Zudem versprach sie auch mehr wirtschaftliche Chancen, denn die Tschechoslowakei war das industriell fortgeschrittenste Land der Mitteleuropas und tatsächlich gab es danach einen deutlichen Aufschwung. Eine Rückkehr zu Ungarn wollte in diesem Kontext kaum jemand.

Der Beschluss wurde im Sommer 1919 praktisch umgesetzt und 1920 im Vertrag von Trianon auch formal völkerrechtlich verankert. Zwischen 1925 und 1929 schickten die Wähler der Region Woloschyn als Abgeordenten der Ruthenisch-Nationalen Christlichen Partei ins tschechoslowakische Parlament nach Prag. Als im Oktober 1938 Hitler (mit Hilfe der Westalliierten) durch das Münchner Abkommen das Sudetenland zugesprochen bekam, wurde gleichzeitig die Tschechoslowakei (nun Tschecho-Slowakei) „föderalisiert“. Die Slowakei und auch Transkarpatien (nicht aber des Kern-Tschechien!) bekamen eine große Autonomie und eigene Volksvertretungen zugesprochen. Die Autonomie kam bereits einer Unabhängigkeit sehr nahe. In beiden Landesteilen konnte man den Aufstieg nationalistischer autoritärer Tendenzen beobachten. Die transkarpatische Autonomie (ab November 1938) war noch größer und war im Prinzip nur noch eine formale Verpflichtung von Unabhängigkeit unterschieden, sich als der Tschecho-Slowakei zugehörig zu erklären. Die Regierung in Prag setzte am 11. Oktober 1938 zunächst einmal als Ministerpräsident: Andrij Brodij ein, der dem kleinen russophilen Segment der transkarpatischen Nationalisten angehörte, der aber schon am 28. Oktober wegen vermuteter Nähe zum in Ungarn regierenden rechtsautoritären Regime Admiral Horthys abgesetzt wurde – wofür spricht, dass er später Mitglied des ungarischen Parlaments wurde.

Ihm folgte dann sein Gesundheitsminister Awgustyn Woloschin ins Amt. Der nutzte seine Spielräume geschickt und leitete eine autoritäre Politik der Ukrainisierung ein. Zugleich baute er eine eigene 5000 Mann starke Armee auf. Denn die geopolitische Lage spitzte sich zu. Dem Münchner Abkommen war nämlich am 2. November 1938 der Erste Wiener Schiedspruch gefolgt, in dem Italien und Deutschland durchsetzten (in Gegenwart des empörten Woloschyn, der zur tschechoslowakischen Delegation bei den Verhandlungen gehörte) durchsetzten, dass einige Teile Transkarpatiens wieder zu Ungarn (unter Horthy nun Verbündeter der Nazis) gehören sollte, weshalb die Hauptstadt von Uschhorod nach Chust verlegt werden musste. Die Lage war somit schon bedrohlich genug. Im März 1939 begann Hitler mit der sogenannten Zerschlagung der Rest-Tschechei. Die Slowakei wurde am 14. März in einen eigenen Marionettenstaat Hitlers verwandelt, einen Tag darauf wurde der Rest Tschechiens als pseudo-unabhängiges Reichtsprotektorat Böhmen und Mähren unterworfen. Im Vorfeld dieser Ereignisse hatte Woloschyn begonnen, die Autonomie Transkarpatiens voranzutreiben, wozu gehörte, dass der Regierung nicht mehr von Prag ernannt, sondern vom eigenen transkarpatischen Parlament, Soim genannt, gewählt wurde. Woloschyns autoritäre Tendenzen wurden immer deutlicher. Schon am 17. November 1938 setzte er als Regierungschef des autonomen Transkarpatiens das Verbot aller Parteien durch. Am 13. Januar 1939 gründete er dann seine neue eigene Partei, die Ukrainische Nationale Union, die dann als einzige Partei für die Wahlen am 12. Februar zugelassen wurde und das unter diesen Umständen kaum noch überraschende Ergebnis von 92,4% der Stimmen erreichte. Ideologisch orientierte sich die Partei recht offen an Mussolinis Faschisten. Geschickt integrierte Woloschyn dabei Vertreter von Minderheiten, die ein Interesse an einem unabhängigen Transkarpatien hatten, wozu zum Beispiel definitiv nicht die Ungarn gehörten, die immerhin rund 16% der Bevölkerung stellten, aber keine Vertretung mehr hatten. Von den 32 Abgeordnete waren 29 Ukrainer, einer Tscheche, einer Rumäne und ein Deutscher. Letzterer war der Ingenieur und Agrarwissenschaftler Anton Ernst Oldofredi als Vertreter des den Nazis nahestehenden Deutschen Volksrats. Das Parlament trat nur zu einer Sitzung zusammen. Am 15. März 1939 wählte es Woloschyn zum Präsidenten und bekräftigte dessen Unabhängigkeiterklärung. Die nun völlig unabhängige Transkarpatische Republik währte nur einen Tag und gehört dadurch zu den kurzlebigsten Staaten der Weltgeschichte. Schon am nächsten war das Land von der ungarischen Armee besetzt, der man keine Gegenwehr entgegensetzen konnte.

Woloschyn konnte sich gerade noch mit Hilfe von verbliebenen tschechoslowakischen Truppen rechtzeitig absetzen und über Rumänien und Jugoslawien nach Prag fliehen, wo er eine zeitlang in einem Kloster Unterschlupf fand. Politisch aktiv wurde er nicht wieder, sondern lehrte an der Freien Ukrainischen Universität, die schon 1921 von Exilukrainern gegründet worden war – meist Flüchtlinge vor dem Bolschewismus. Ende 1944 besetzte die Rote Armee das Gebiet, wo sich Woloschyns „Ein-Tages-Republik“ befunden hatte, und das nun wieder an die Tschechoslowakei zurückfiel, um dann wiederum 1946 Teil der Sowjetunion zu werden. Im Mai 1945 erreichte die Rote Armee auch Prag und der Krieg ging zu Ende, Die Tschechoslowakei hatte das Glück, dass die Rote Armee schon am 15. November 1945 das Land verließ und sich selbst bestimmen ließ (die Machtübernahme der Kommunisten 1948 erfolgte nicht direkt durch russische Bajonette wier andernorts – etwa Polen – sondern durch eigenes Politikversagen). In der Zeit ihrer Präsenz verhafteten die Sicherheitsdienste der Sowjetunion systematisch alle aus ihren Territorium stammenden Exilanten, die sie als politische Gegner identifizierten. Woloschyn war zwar kein solcher Exilant und seine politische Tätigkeit – was immer man über sie sagen kann – war auch nie direkt gegen die Sowjetunion gerichtet. Trotzdem stufte man ihn als gefährlich ein und hatte schon Ende versucht, ihm mit einem geheimen Mordkommando beizukommen, was aber fehlschlug. Alles, was irgendwie einen ukrainischen Nationalismus befördern könnte, galt als höchstes politisches Risiko und sollte unterdrückt werden. Deshalb wurde ein ukrainischer Nationalist wie Woloschyn hoch auf die Fahndungsliste gesetzt, auch wenn er gar nicht in der Sowjetunion agiert hatte. Seine persönlichen Kontakte mit der tatsächlich seit den späten 1920er für die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion kämpfenden Organisation Ukrainischer Nationalisten (die – allerdings erst nachdem Woloschyn seine politische Karriere beendet hatte – teilweise im Krieg mit den Nazis kooperierten) waren sicher auch nicht hilfreich.

Jedenfalls wurde Woloschyn schon im Mai 1945 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet und nach Moskau verschleppt. Auf seinem Kenotaph hier in Prag steht, dass er in dem als Folterstätte berüchtigte Moskauer Lefortowo-Ggefängnis eingesperrt wurde und dort starb. Die meisten Quellen sprechen aber von dem heute noch als Schreckensort bekannten Butyrka Gefängnis. Wie dem auch sei, beide waren Orte, wo man hauptsächlich politische Gefangene inhaftierte und in vielen Fällen ohne Gerichtsurteil einfach tötete. Schon nach kurzer Zeit, am 19. Juli 1945, starb Awgustyn Woloschyn. Die sowjetischen Behörden sprachen von einem natürlichen Tod durch Herzversagen. An der offiziellen Erklärung kann man berechtigte Zweifel haben, aber ein Mord lässt sich nicht nachweisen, da niemand die Leiche, die an unbekanntem Ort begraben oder eingeäschert wurde, unabhängig untersuchen konnte. Und deshalb gibt es nur das Kenotaph in Prag. Das wurde wohl nicht von vornherein und ausschließlich als Kenotaph für Woloschyn aufgestellt, denn eigentlich handelt es sich um das (reale) Grab von Olga Dutková (geb. Turkiňáková). Die hatte – obwohl 1910 in Prag geboren – ukrainische familiäre Wurzeln. Sie wurde bekannt als Musikwissenschaftlerin und Gründerin des gemischten Kammerchors Byzantion, der 1957 noch unter dem Namen Collegium musicae slavicae Praga ins Leben gerufen wurde, und der sich der Pflege und Verbreitung traditioneller slawischer Musik widmet. Mit ihr begraben ist auch ihr Bruder Boris Turkiňák, der – wie Woloschyn – griechisch-katholischer Priester war. Die passend tschechisch-ukrainischen Geschwister fühlten sich dem Erbe Woloschyns und der ukrainischen Kultur offenbar sehr verpflichtet, so dass bei ihrem Tod 2004 eine schmale Grabstele errichtet wurde, die oben eine quergestellte breitere Grabplatte aufgesetzt hat, die sich in Tschechisch und Ukrainisch dem Andenken Woloschyns widmet.

Die Kombination von echtem Grab und Kentotaph ist, gelinde gesagt, eher ungewöhnlich, so wie das Leben Woloschyns und die Geschichte Transkarpatien als Teil der Tschechoslowakei eine ungewöhnliche ist. Mit einem Urteil über sein Wirken tut man sich schwer. Für ukrainische Nationalisten ist er ein Held und Märtyrer. 2002 erhielt er zum Beispiel postum den Orden Held der Ukraine durch den umstrittenen ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma. Sein autoritär-faschistoider Regierungsstil im autonomen und dann für einen Tag im unabhängigen Transkarpatien mindert indes seine Vorbildfunktion nicht gerade unerheblich. Ein wichtiger Teil der dramatischen und manchmal verschlungenen Geschichte der Tschechoslowakei ist das Kapitel „Transkarpatien“ auf jeden Fall. Wie hätte sich die Sache entwickelt hätte sich die Zugehörigkeit zur Tschechoslowakei länger und stabiler entwickelt? Hätte man sich nicht viel Leid erspart? Und hätte sich Woloschyn so in eine diktatorische Richtung entwickeln können? Wir wissen es nicht. Die geostrategische Situation Transkarpatiens in der ersten Jahrhunderthälfte schien sich zwangsläufig auf eine Tragödie hinzuzubewegen. Immerhin: Das Kenotaph ist ein kleiner, und dadurch vielleicht angemessener Erinnerungsort für ein Stück Historie einer schweren Zeit. (DD)

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