Großartiger Wochenendausflug – auch ohne Libuše

Es ist schon ein bemerkenswerter Anblick, wenn man durch den inneren Verteidigungsring der alten Burgwallanlage von Libušín (Hradiště Libušín) kommt, um im Mittelpunkt des Areals die barocke Fassade der Kirche des Heiligen Georg (Kostel sv. Jiří) auftauchen zu sehen.

Wir befinden uns rund 30 Kilometer nordöstlich von Prag und in der Nähe der modernen Bergbau- und Industriestadt Kladno. Der eher unscheinbare Ort Libušín ist schon ein wenig ländlicher und von Wäldern umgeben. Den Berg hinauf erreicht man die Wallanlage – ein Ort voller Mythen! Der Mönch Cosmas, der berühmteste mittelalterliche böhmische Chronist, erwähnt sie ausführlich in seiner im frühen 12. Jahrhundert verfassten Chronica Boemorum (Chronik der Böhmen). In der Burg habe im 8. Jahrhundert eine zeitlang die legendäre Fürstin Libuše gelebt, die durch ihre Heirat mit Přemysl die in Böhmen über Jahrhunderte regierende Herrscherdynastie der Přemysliden gründete (wir berichteten u.a.hier und hier). Die Seherin soll hier irgendwann im 7. Jahrhundert eine Vision gehabt haben, das Prag dereinst eine blühende und große Stadt werde, und dass man dort eine Burg (den heutigen Hrad) erbauen solle.

Die deutlich ältere Christianslegende (Legenda Christiani) aus dem späten 10. Jahrhundert behauptet jedoch, die gute Fürstin und Seherin habe ihre Vision auf dem Vyšehrad gehabt, der südlichen Burganlage Prags. Das wirkt irgendwie plausibler, denn die Burg von Libušín liegt doch weit außerhalb Prags und auch ganz an der Peripherie des Herrschaftsgebiets der Přemysliden, wenn nicht gar außerhalb. Wenn man eine dramatische Prophezeiung inszenieren will, dann eignet sich der Vyšehrad erheblich besser, weil man hier hier aus der Höhe mit großem Gestus den Blick über die zukünftige Metropolstadt schweifen lassen kann. Aber vermutlich stimmt weder das eine, noch das andere. Beide Chronisten lebten und schrieben Jahrhunderte nach den geschilderten Ereignissen und füllten Wissenslücken mit sehr viel Phantasie. Was sie offenbar nicht wussten, ist, dass sich hier im 8. Jahrhundert noch gar keine Burganlage mit herrschaftlichen Sitz befand. An der Stelle, wo wir heute die Burganlage und die Georgskirche bewundern können, gab es damals lediglich eine kleine unbefestigte Ansiedlung,

Diese Siedlung kann allerdings, wie die Archäologen herausfanden, auf eine lange Geschichte zurckblicken. Beginnend mit der Bronzezeit úber die Hallstattkultur und die Eisenzeit führt sie uns hin bis zum Frúhmittalter. Auf einem hohen Hügel mit steilen Abhängen und inmitten sehr fruchtbaren Landes gelegen, bot das Areal Schutz und Lebensmöglichkeiten. Ein idealer Sidlungsort also. Zur Festung wurde der Ort wahrscheinlich erst im 10. Jahrhundert unter dem böhmischen Herzog Boleslav I.. Das war der, der seinen Bruder, den späteren HeiligenWenzel ,umbringen ließ, weshalb er als Boleslav der Grausame in die Geschichte einging. Boleslav fand, dass sich sein Bruder politisch zu sehr dem deutschen Kaisertum angenähert hatte. Nach dem gewaltsamen Ende Wenzels versuchte er Böhmen davon zu lösen und bekämpfte Kaiser Otto I. Das ging schief und 950 erkannte Boleslav die kaiserliche Oberhoheit an. War die Burganlage also ein Teil des Boldeslavschen Verteidigungssystems gegen Kaiser Otto? Es kann sein, aber genaues wissen wir nicht.

Die Anlage wurde zu Beginn des 11. Jahrhunderts noch einmal ausgebaut, möglicherweise in Zusammenhang mit dem Krieg, den der böhmische Herzog Jaromír – diesmal mit Unterstützung des deutschen Kaisers Heinrich II. – gegen die im Land einfallenden Truppen des polnischen Herzogs Bolesław Chrobry siegreich führte. Wenn dem so ist (was man nicht so recht weiß), dann war das die letzte Blüte des Areals als Festung mit militärischer Bedeutung. Die Wallanlagen wurden seit dem 11. Jahrhundert nicht mehr gepflegt und in Stand gesetzt. Das Land wurde friedlicher und nicht nur hier in Libušín evrschwanden sie, sondern überall in Böhmen. Man suchte andere Orte als Handelszentren und wenn irgendwo Burgen gebaut wurden, dann größer und aus Stein.

Blieb aber noch die Kirche inmitten der alten Anlage. Die kann nämlich auch auf eine lange Geschichte zurückblicken. Soweit man es archäologisch erschließen kann, entstand sie bereits im 10. Jahrhundert, also in der Zeit, als die Siedlung zur Festungsanlage wurde. Von der Originalkirche der Zeit, die wohl aus Holz gebaut war, sieht man nichts mehr. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte der Archäloge Josef Ladislav Píč bei Augrabungen das Fragment eines romanischen Portals aus dem 12. Jahrhundert. Heute mit dem Auge nicht mehr sichtbar, ist es das älteste erhaltene Stück der Kirche. Schriftlich erwähnt wird die Georgskirche erst 1355 in einem päpstlichen Zehntenregister. Von da an bis zu den Hussitenkriegen ab 1420 kennt man sogar die Namen der Pfarrer der Gemeindekirche für den Ort Libušín. Zu diesem Zeitpunkt konnte man hier ein Krichengebäude im spätgotischen Stil bewundern.

Dem Kirchenbau wurde 1514 noch ein großer hölzerner sechseckiger Glockenturm (Campanile) hinzugefügt. Er wurde mit zwei großen Glocken bestückt, eine wurde schon 1504, die andere 1536 gegossen. Die ältere der beiden Glocken wurde 1996 gestohlen und später durch eine neue Glocke ersetzt. Die abgelegene Lage schien wohl Einbrecher in den 1990er Jahren geradezu anzulocken. Schon 1991 waren Einbrecher in die Kirche eingebrochen und stahlen zwei Altarbilder, ein weiterer Einbruch mit weiteren Diebstählen erfolgte 1998.

Der Glockenturm von 1514 ist übrigens wegen seiner Höhe der am weitesten sichtbare Teil der Kirche. Im Jahre 1650 ging man aber an einen grundlegenderen Umbau. Die Kirche – insbesondere die Fassade – wurde im spätbarocken Stil umgebaut. Immer wieder wurde sie weiter ausgeschmückt. Ein neuer barocker Altar wurde 1683 errichtet und 1760 noch ein zusätzlicher Rokokoaltar. Auch im 19. Jahrhundert gedieh die Kirche. Im Jahr 1800 kamen noch Gemälde mit Aposteldarstellung dazu und 1859 wurde zum Beispiel die Orgel eingebaut. 1908 kam allerdings das Gemeindeleben in der zum Erliegen. Im 19. Jahrhundert erlebten Bergbau und Industialiserung ihren Aufschwung und die Bevölkerung wuchs. 1775 hatte Libušín noch 18 Einwohner (die passten alle in die Kirche!), 1869 waren es schon 501 und 1900 ganze 4087.

Darob baute man 1908 ein neues Gotteshaus für die Gemeinde, die neogotische Kirche des Heiligen Prokop (kostel sv. Prokopa), für die die Gemeinde nicht einmal mehr einen hohen Berg hochsteigen musste, weil sie mitten im Ort liegt. Diese neue Kirche scheint bis heute groß genug für die Bedürfnisse der Gemeinde zu sein. Das heißt nicht, dass man die Georgskirche oben darob vernachlässigte. Im Zeitalter des erwachenden tschechischen Nationalbewusstseins wurde ein Ort, den man mit der sagenumwobenen Gründerfürstin Libuše in Verbindung bringen konnte, leicht zum Gegenstand patriotisch aufgeladener Gefühle.

So war die alte Kirche bereits „Kult“ als die neue Kirche die Bühne betrat. Im Jahr 1883 regotisierte man teilweise bei einem neuerlichen Umbau wieder die zuvor barockisierte Kirche. Der Bezug zur Gotik schuf eine größere Nähe zur tschechischen Mythenwelt, während Barock mit Habsburgertum verbunden wurde. Auf jeden Fall ist das, was heute von außen wie die alte vorbarocke Gotik aussieht, in Wirklichkeit relativ moderne Neogotik (siehe die Apsis im Bild links). Die barocke Frontfassade behielt man aber bei. 1907 sorgte man für ein neues Dach. Etwas später im 20. Jahrhundert riss man noch einige neuere Häuser, die das Zusammenspiel von Kirche, Burgwall und Landschaft störten ab. Kurz: Um die Kirche und ihre Pflege musste man sich wohl keine Sorge machen.

Bis zum Jahr 1948. Das ergriffen die Kommunisten die Macht. Die hatten eine Neigung, Kirchen aus ideologischen Gründen zu vernachlässigen und verfallen zu lassen. Nur einmal, 1973, ergriff man Maßnahmen, das Holzdach des Campanile zu reparieren. Nach dem Ende des Kommunismus musste man 1990/91 Nägel mit Köpfen machen. Alles – Fassade, Bedachung, Turm, Inneneinrichtung – wurde renoviert. Auch die oben erwähnte Einbruchserie, die danach folgte, ist passé.

Heute gibt es ab und Konzerte, vor allem aber wird sie als Kirche für Beerdigungen genutzt, denn innerhalb der Kirchenmauern liegt ein mit schönen alten Baumbestand versehener Friedhof. Und ebenfalls führt hier am St.-Georgstag (24. April) eine St. Georgs-Wallfahrt (svatojiřská pouť) statt, um den namensgebenden Heiligen zu ehren. Dem fühlt man sich vielleicht auch deshalb nahe, weil der Ort Libušín im 13. Jahrhundert der bedeutenden Basilika des Heiligen Georgs (Bazilika sv. Jiří) bzw. dem dazugehörigen Kloster in der Prager Burg gehörte. Die Kirche wird von vielen Ausflüglern besucht, die zumeist alelrdings sie nur von außen betrachten können, da sie aus Sicherheitsgründen nur bei Gotetsdiensten oder Veranstaltung geöffnet ist.

Aber natürlich wird der Ort nicht nur wegen der Kirche, sondern vielmehr, weil dieselbe inmitten einer enormen Burgwallanlage platziert ist. Eine Doppelsensation sozusagen… Ein gut (allerdings auf Tschechisch) mit Tafeln ausgeschilderter Lehrpfad führt heute durch das Gelände. Im 20. Jahrundert fanden große Ausgrabungen statt, etwa 1929 durch Jaroslav Böhm, dem Leiter des Staatlichen Archäologischen Institut (immerhin von 1923 bis 1962) und dann noch eine lang anhaltende und ergiebige Ausgrabung von 1949 bis 1971 durch Zdeněk Váňa, ein Spezialist für das böhmische Frühmittelalter. Die Funde waren zum Teil sensationell, etwa die in Stein geritzten Darstellungen von bewaffneten Reiters auf dem Pferd, die auf das 9. oder 10. jahrundert datiert werden können. Manche behaupten, sie seien die ältesten überlieferten slawischen Bildwerke auf böhmischem Boden. Auf einem der Wege im Areal findet sich die rechts abgebildete Kopie eines solchen Kunstwerks.

Das Burgareal war ideal für eine Festungsanlage, schon weil es an der südlichen Seite durch einen sehr steilen Abhang begrenzt wurde, der einen schnellen und effektiven Angriff von hierher verunmöglichte. Die reestlichen drei Seiten sind durch einen noch ausgesprochen gut sichtbaren Wall geschützt (Bild links), der einen westlichen und einen östlichen Eingang hatte. Hinter dem Wall befand sich ein Graben, der dem potentiellen Feind das Eindringen erschweren sollte. Übrigens: Anscheinend wurde die Burg dann auch nie erobert. Möglicherweise war sie aber auch nie wirklich umkämpft.

Etwa 100 Meter weiter westlich wurde die auf einer bergzunge erbaute Burganlage durch einen zweiten Wall geschützt, der ebenfalls noch gut sichtbar und hoch ist. Interessant ist hier, dass die Archäologen bei einer der letzte Ausgrabungen bewusst einen der Aushube nicht wieder zugeschüttet haben. Dadurch kann man einen Blick ins Innere solch eines Walls erheischen. Dann sieht man, dass es sich nicht nur um aufgeschüttete Erde handelte, die möglichewrweise obendrauf noch ein paar Palisaden aufgesetzt bekam. In Wirklichkeit befanden sich im Kern Steinaufschüttungen und vor allem steinerne Längsverstrebungen, von denen man eine im Bild rechts gut erkennen kann. Die Burganlage war also solider befestigt als man sich das so gemeinhin vorstellt.

Geht man weiter nach Westen in Richtung des dritten und äußeren Burgwalls kann man sehen, warum die beiden äußeren Wälle zur nördlichen Seite leider zum Teil verschwunden sind. 1902 eröffnete direkt neben der Anlage die Zeche Schöller (Důl Schoeller) ihren Betrieb – ein großes Steinkohlebergwerk, das nach seiner Verstaatlichung 1946 in Zeche Nejedlý umbenannt wurde. Zur Info: Zdeněk Nejedlý (wir erwähnten ihn u.a. bereits hier) war ein Stalinist, der in der ersten kommunistischen Regierung den Kulturminister gab. Warum man ausgerechnet ein Bergwerk nach ihm benannte, erschließt sich nicht so einfach. Nach dem Ende des Kommunismus 1989 wurde die Benennung rückgängig gemacht. Und 2002 wurde das Bergwerk geschlossen. Heute ist hier ein Industriemuseum, von dem man auf dem Weg zum dritten Wall den Fördertum sehen kann (Bild links).

Was den dritten/äußeren Wall geht, der sich rund 100 Meter westlich des zweiten Walls befindet, so fiel nicht nur der nördliche Teil dem Bergwerk zum Opfer. Dort, wo der Lehrpfad entlang führt, ist er duch die Zeitläufe und Erosion fast bis zur Unsichtbarkeit abgetragen worden. Man muss schon ein wenig vom Hauptweg nach Süden über überwucherte Trampelpfade gehen, um dort den Außenwall wieder deutlich zu erkennen (Bild rechts)

Alles in allem: Ein sehr geschichtsträchtiger Ort – auch wenn die legendäre Libuše hier mit Sicherheit nie war und auch nichts prophezeit hat. Eine der größten Burgen der Přemysliden, die idyllisch in der Mitte gelegene Kirche und die bewaldete umgebende Landschaft, die zu langen Spaziergängen einlädt – das alles zusammen ist das Holz, aus dem der ideale Wochenendausflug für Prager Stadtmenschen geschnitzt ist. (DD)

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